Verrat am Souverän
Von mdw-Chefredakteur André Wannewitz
Nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt springen der Landes-CDU langjährige Mitglieder von der Fahne. Die einen machen kurzen Prozess und geben gleich ganz ihr Parteibuch ab, andere interessengebundene Funktionsträger legen ihr Ehrenamt nieder, etwa Carmen Niebergall, frühere Staatssekretärin und langjähriges Mitglied im Demografie-Beirat der Landesregierung. Und wieder andere, wie der jetzt wiedergewählte Abgeordnete des Landtages mit CDU-Mandat, Uwe Harms aus Klötze, wissen auf die Frage, welche Prioritäten sie in den ersten 100 Tagen der neuen Legislatur setzen wollen, keine einzige Antwort.
„Politik wird ganz oben gemacht. Und hier unten wird das Leben verwirklicht", hatte mir ein führender Offizier der Roten Armee bei der Verabschiedung der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland vor Jahren gesagt. Ein starker Satz, den ich für mich verinnerlicht habe – und der auf fast alle Lebenslagen passt, die das Verhältnis zwischen Politik und Volk beschreiben. Und wie die Faust auf‘s Auge auch zutrifft auf die politische Konstellation, in der sich Sachsen-Anhalt mit der ersten schwarz-rot-grünen Regierungskoalition in Deutschland jetzt befindet.
Erinnern wir uns: Die Ausgangslage des sachsen-anhaltischen Wahlkampfes – vor allem die der Christdemokraten – war von der Spannungslage in Deutschland geprägt, die die Flüchtlingswelle mit sich brachte. Auf der einen Seite die globale Einladung der Parteivorsitzenden, Bundeskanzlerin Angela Merkel, wer wolle, könne kommen. „Wir schaffen das." Auf der anderen Seite schon die besorgte Haltung des CDU-Spitzenkandidaten Reiner Haseloff, den Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland schnell und wirksam zu begrenzen und die Sorgen der AfD-Anhänger ernst zu nehmen. Haseloff und sein Freund, Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer, übten den Schulterschluss: Schlussendlich richtet aber Merkel kraft ihrer Richtlinienkompetenzen in Partei und Staat die politischen Reibereien zwischen den Schwesterparteien. Die Landes-CDU, die sich den Slogan als Sachsen-Anhalt-Partei zueigen gemacht hat, setzt ohne Widerworte ganz auf Haseloffs Wiederwahl. Dem Wahlerfolg des bisherigen Regierungschefs ist alles andere untergeordnet. Diesen kategorischen Machtanspruch, der mich an die Endphase der DDR erinnert, publizierte die Sachsen-Anhalt-CDU im Wahlkampf auf allen Plakaten und Marktplätzen. „Wir wollen, wir können, wir werden regieren", trommelte die Junge Union als der Parteinachwuchs im Auftrag jener CDU-Granden, die in den Landtag gewählt werden wollten. Erich Honecker lässt grüßen, dachte ich mir dabei und besinne mich an die Aufmärsche der Freien Deutschen Jugend in treuer Thälmannscher Ergebenheit vor dem DDR-Partei- und Staatschef.
Am Wahltag entschied das Volk als der Souverän und bescherte dem Land Sachsen-Anhalt eine politische Lage ohne Beispiel, die bisher nirgendwo anders in deutschen Bundesländern zu finden ist. Rund 25 Prozent der Wahlbevölkerung in Sachsen-Anhalt, also ein Viertel aller Wählerinnen und Wähler, sprachen sich für eine alternative Politik für Deutschland aus und straften bisherige Parteien im Landtag dermaßen ab, als dass ihre Rolle als Volkspartei in Frage gestellt werden kann. Zwar wurden die Christdemokraten trotz Verluste erneut stärkste Partei, doch die SPD als bisheriger Koalitionspartner rutschte derart in Richtung der Bedeutungslosigkeit, dass sich die Genossen schon kurz nach der Wahl selbst aufgeben wollten. Um ein Abdriften des Landes Sachsen-Anhalt hin zu einer alternativen Politik zu verhindern, waren Haseloff und seine CDU jetzt erst recht zur Aufgabe gezwungen, zu handeln. Aber wie? Fest stand für die CDU nur eines: Haseloff muss bleiben, was er ist: Regierungschef. An der Seite seiner Ehefrau Gabriele, die ihm in seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident bei vielen großen und kleinen Abhaltungen als Begleiterin nie gewichen war, sollte und wollte Haseloff seinen unbedingten Anspruch, die Spitze der politischen Macht im Land Sachsen-Anhalt zu sein, untermauern.
Das wird sicher in der nunmehr siebten Legislaturperiode nicht anders, denn Haseloff ist es tatsächlich gelungen, zwischen Arendsee und Zeitz eine Koalition zu schmieden, die ihm erstens seinen Machterhalt weiter garantiert, aber zweitens auch als Verrat am Souverän gewertet werden kann. Ich weiß, Haseloff und die CDU sehen das anders. Selbst wenn sich Haseloff strikt gegen eine alternative Politik für Sachsen-Anhalt ausspricht, weil diese die konservative Leitlinie von Konrad Adenauer und Helmut Kohl verlassen würde, was auch ich so sehe und ihn in seiner Ansicht zur AfD vorbehaltlos unterstütze, halte ich es für einen Kardinalfehler, mit den Grünen eine Partei ins neue Koalitionsboot geholt zu haben, die mit nur 0,2 Prozent über den Durst überhaupt in den Landtag eingezogen ist. Die neue Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grüne, das ist mein persönlicher und schärfster Vorwurf an den CDU-Landesvorsitzenden Thomas Webel und an den wiedergewählten Regierungschef, dient in meinen Augen ausschließlich der Stimulierung der persönlichen Knute von Reiner Haseloff und seiner nicht minder ehrgeizigen Frau Gabriele, die dafür sogar ihre Selbstständigkeit als Zahnärztin in Lutherstadt Wittenberg aufgegeben hat. Dabei will ich gar nicht auf den dramatischen Verlust der Sozialdemokraten eingehen. Mit ihren 10,6 Prozent, auf die die Genossen im neuen Landtag abgerutscht sind, repräsentiert die Sachsen-Anhalt SPD keinen bedeutenden Volkswillen mehr. Aber zur Mehrheitsbeschaffung und zum Machterhalt Haseloffs dient sie noch ganz gut. Und obendrein gibt‘s dafür zwei Ministersessel, die allemal bequemer sind, als Mist in der Oposition zu sein, wie es sinngemäß einmal SPD-Genosse Franz Müntefering ausdrückte.
Ja und abermals ja: In Sachsen-Anhalt hätte es durchaus eine demokratische Alternative zur Kenia-Koalition gegeben, wenn die Beteiligten gewollt hätten, diese einzugehen. Der frühere Linksfraktionschef im Deutschen Bundestag, Gregor Gysi, hat was ganz Neues in Sachsen-Anhalt vorgeschlagen: eine Koalition seiner Partei mit der CDU. Mit Blick auf die unklaren Mehrheitsverhältnisse im Land forderte Gysi die CDU auf, auch über ein Regierungsbündnis mit der Linkspartei nachzudenken.
Mittlerweile ist in die neue Dreier-Koalition der Alltag eingezogen, und Sachsen-Anhalt wird in den Farben Kenias regiert. Damit dieses Bündnis lange hält, hat die CDU wichtige Ideale, für die sie jahrelang kämpfte und stritt, aufgegeben. Nach der Übernahme des Landwirtschaftsministeriums durch die grüne Ministerin Claudia Dalbert befürchten Sachsen-Anhalts Landwirte in der Agrarpolitik neue Auflagen für Viehhaltung, Geflügelzucht, Kükentötung oder Pestizid-Einsatz. Auch der Waldbesitzerverband schlug schon Alarm. Am größten ist aber wohl der Politikumschwung an der Haltung der Koalitionspartner zur Nordverlängerung der Autobahn 14 festzumachen. Das war immer das Prestigeobjekt der CDU. Und dabei hatte die Partei stets den größten Teil der Bevölkerung im Norden Sachsen-Anhalts hinter sich. Die Grünen indes waren und sind strikt gegen diese Autobahn; sie plädieren für den Ausbau der Bundesstraße 189 – und konnten sich in dieser Frage mit den CDUlern sogar auf einen Kompromiss einigen: Sachsen-Anhalt wolle zu einzelnen Projekten des Bundesverkehrswegeplans „für den Zeitraum der Koalitionsvereinbarung keine abweichenden und weiterführenden Initiativen" ergreifen. Diese Formulierung heißt also: Sachsen-Anhalt verspielt seine Chancen durch Warten und damit Innovation und Zukunft für ganz Deutschland. Nicht ganz. Der aus der Altmark stammende neue Landtagspräsident Hardy Güssau (CDU) hat bereits Verkehrsminister Webel eindringlich aufgefordert, an der Autobahn festzuhalten und den bereits als Zubringer geplanten Neubau der Bundesstraße 190n „ganz oben in seiner Stellungnahme an den Bund zu platzieren". Heftiger Streit ist vorprogrammiert. Ein baldiger Koalitionsbruch nicht ausgeschlossen.