Fremde Freunde - Die Europäische Union und das östliche Europa
Die Europäische Union sieht sich gern als Erfolgsmodell. Als Maß aller Dinge. Als der einzig legitimierte Menschenrechtsbewahrer weit und breit – kurzum: als Heilsbringer für die geplagte Welt. Das ist bekannt.
Weniger bekannt ist, wie unsere Nachbarn darüber denken. Wie sie uns sehen, in der Ukraine, in Georgien oder Armenien. Streben sie tatsächlich alle, wie man in Brüssel ungefragt unterstellt, mit Feuereifer die Mitgliedschaft an? Oder dürfen unsere Nachbarn auch skeptisch sein? Haben vielleicht einige dieser Länder besondere Bindungen etwa zu Russland? Oder verständliche Befürchtungen gegenüber einer Politik, die wie selbstverständlich von einer angeblich unwiderstehlichen Attraktivität des westeuropäischen Integrationsmodels ausgeht?
Kurzum – wir Unionsbürger sollten mehr Sensibilität entwickeln für die östlichen Nachbarn, deren Herz zutiefst europäisch schlägt, die sich aber zugleich in vielfältiger Hinsicht an Russland gebunden fühlen und gewachsene Verflechtungen nicht ohne weiteres preisgeben wollen – oder können. Und im Osten sollte man lernen, dass die EU eher ein „Scheinriese" ist – aus der Ferne betrachtet ein Wirtschafts- und Polit-Gigant – und aus der Nähe gesehen ein schwieriger Club mit begrenzten wirtschaftlichen, finanziellen und vor allem auch politischen Möglichkeiten.
Europäische
Nachbarschaftspolitik
Die sogenannte Osterweiterung, der EU-Beitritt von zehn überwiegend osteuropäischen Ländern am 1. Mai 2004, ließ sich nachvollziehbar mit dem Ziel der Befriedung eines unruhigen Kontinents nach dem Ende des Kalten Krieges in Einklang bringen. Nun aber entfaltete die EU eine neue emsige Geschäftigkeit gerade auch gegenüber anderen Ländern des bisherigen sowjetischen Einflussbereichs. So rief man – ebenfalls 2004 – die Europäische Nachbarschaftspolitik ins Leben. Auch über den Kreis der zehn Neumitglieder hinaus wollte man – so die wohlklingenden Zielvorstellungen – Wohlstand, Sicherheit, Stabilität sowie rechtsstaatliche und demokratische Strukturen fördern. Einbezogen sind: • Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau, Ukraine im Osten, • Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, die palästinensischen Autonomiegebiete, Syrien, Tunesien im Süden. • Obwohl Russland gleichermaßen ein Nachbar der EU ist, werden die europäisch-russischen Beziehungen im Rahmen einer gesonderten Strategischen Partnerschaft entwickelt.
Die EU setzt auf finanzielle Unterstützung, stärkere wirtschaftliche Integration, einen engeren politischen Dialog und vertiefte sektorale Zusammenarbeit mit den Partnerstaaten und der Partner untereinander. Der Ansatz ist leistungsbezogen: Staaten, die deutliche Erfolge auf dem Reformweg vorweisen, können ihre Beziehungen mit der Union substantiell vertiefen.
Eine direkten Beitrittsperspektive wird wohlgemerkt nicht angeboten. Zentrales Bestreben der ENP ist es vielmehr, den Nachbarn im Wege vertiefter Kooperationsangebote bei ihren Reformen auf die Sprünge zu helfen.
2011 hat die EU ihre Nachbarschaftspolitik neu ausgerichtet. Man veröffentlichte „Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel". Eine gegenseitige Rechenschaftspflicht sowie die gemeinsame Verpflichtung zur Achtung universeller Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden hervorgehoben. Interessierten Partnern werden engere Handelsbeziehungen, umfassende Freihandelszonen und ein verbesserter Marktzugang in Aussicht gestellt.
Der Implementierung der ENP dient heute das Europäische Nachbarschaftsinstrument (ENI). Das Prinzip: Je umfassender ein Land bei seinen internen Reformen vorankommt, desto mehr Unterstützung soll es erhalten („more for more"). Für den Zeitraum 2014 bis 2020 soll ENI mit 15,4 Milliarden Euro ausgestattet sein.
Im März 2014 zog die EU-Kommission eine eher gemischte Bilanz. Reformbemühungen in den östlichen wie auch in den südlichen ENP-Ländern seien fortgesetzt und von der EU unterstützt worden. Jedoch führten zunehmende Sicherheitsprobleme in einigen Ländern auch zu negativen Entwicklungen.
Weitere Initiativen sind: • die sogenannte Mittelmeer-Union, der alle EU-Staaten, die Mittelmeeranrainer (außer Libyen), sowie Jordanien und Mauretanien angehören, • die Schwarzmeersynergie, die eine verstärkte Zusammenarbeit mit dem strategisch wichtigen Schwarzmeerraum zum Ziel hat, sowie die Schwarzmeer-Umweltpartnerschaft, und • die Östliche Partnerschaft (ÖP) als regionale Komponente der Europäischen Nachbarschaftspolitik.
Östliche
Partnerschaft
Am 7. Mai 2009 wurde sie in Prag ins Leben gerufen und richtet sich – an Russland unübersehbar vorbei – an die Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Sie ist das ambitionierteste Angebot zur Zusammenarbeit unter dem Dach der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Und – sie kam zur rechten Zeit, um nach der russischen Intervention in Georgien im Herbst 2008 den Willen der EU zu einer engeren Anbindung der Staaten in ihrer östlichen Nachbarschaft glaubhaft zu demonstrieren. Seither finden alle zwei Jahre Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der ÖP statt.
Die Östliche Partnerschaft soll diese Länder unumwunden an politische und wirtschaftliche EU-Standards heranführen und sie auf diese Weise modernisieren. Gleichzeitig zielt die ÖP auf eine verstärkte Kooperation aller Partner untereinander. Die Frage einer EU-Beitrittsperspektive gehört grundsätzlich nicht zum Themenspektrum. Ein längerfristiges Ziel der ÖP aber ist die Visumfreiheit. Bereits heute profitieren Reisende aus den Partnerländern von zahlreichen Erleichterungen, unter anderem niedrigeren Visagebühren oder einer Terminvergabe via Internet.
Entwickelt haben sich die Beziehungen zu den EU-Nachbarn im Osten auf dieser Basis zunächst vielversprechend. Der zweite Gipfel 2011 konzentrierte sich auf die Zusammenarbeit in Wirtschaft und Handel. Auf dem Gipfel in Wilna konnte 2013 u.a. ein Visaerleichterungsabkommen mit Aserbaidschan unterzeichnet sowie eine gemeinsame Erklärung mit Armenien verabschiedet werden.
Dann aber kam es, wie es kommen musste: Seit 2013 hat russischer Druck auf die Östlichen Partner, von einer Assoziierung mit der EU und der Inkraftsetzung von darin enthaltenen umfassenden Freihandelszonen abzusehen, die Situation in der gemeinsamen Nachbarschaft mit Russland eingetrübt. Trilaterale Gespräche sowohl auf Ministerebene als auch in Fachgruppen mit Russland wären sehr dringend angeraten, um die Bestrebungen im Rahmen der ÖP transparent zu machen und russische Sorgen über Folgewirkungen auf die eigene Wirtschaft zu entkräften.
Im Mai 2015 traf man sich zum vierten Gipfel in Riga. Der Hoffnung besonders der Ukraine auf eine klare Beitrittsperspektive wurde nicht entsprochen. Unter der Bedingung aber, dass die Korruption bekämpft und die Wirtschaft reformiert wird, sagte die EU der Ukraine einen Kredit in Höhe von 1,8 Milliarden Euro zu. Nach den Moldawiern sollen auch für Georgier und Ukrainer Visaerleichterungen für Reisen in die EU geprüft werden. Alles in allem will die EU die Beziehungen zu diesen Ländern ungeachtet der Krise mit Russland ausbauen.
Bewertung aus Sicht
der östlichen Nachbarn
Wie schon angedeutet, wird die ÖP in den sechs Partnerländern nicht nur positiv gesehen. Moldawien etwa befürchtet, sein Verhältnis zu Russland zu belasten. Georgien hingegen sah die ÖP bis dato bewusst als Hinwendung zur EU und als Abwendung vom russischen Nachbarn. Das gilt auch für Armenien. Allerdings darf man keinesfalls übersehen, dass die Außengrenzen Armeniens zur Türkei und dem Iran durch russische Grenztruppen geschützt werden. Wegen des Berg-Karabach Konfliktes und der nicht normalisierten Beziehungen mit der Türkei wird die russische Militärpräsenz in Armenien als für die Sicherheit des Landes unerlässlich angesehen. Nicht vergessen werden darf zudem, dass Armenien auch wirtschaftlich von Russland sehr abhängig ist.
Von allen ÖP-Partnern konnten mit Weißrussland die geringsten Fortschritte erzielt werden. Auch wenn es keine bilaterale Zusammenarbeit mit der EU gibt, so strebt Minsk durchaus ein außenpolitisches Gegengewicht zu Russland an. Auf der multilateralen Ebene der ÖP kooperieren belarussische Behörden und EU-Kommission in den Bereichen Ökologie, Zoll, Transport, Energie, Wirtschaft und Finanzen.
Die Zusammenarbeit der sechs Partnerländer untereinander ist völlig unterentwickelt. Einig sind sich die sechs Länder vor allem in dem Ziel einer baldigen Visafreiheit.
Beziehungen zur Ukraine
Mit der Ukraine strebt die Europäische Union offiziell eine zunehmend enge Partnerschaft – jedoch bislang keinen Beitritt – an. Jahrelang wurde über ein Assoziierungsabkommen (DCFTA) verhandelt. Dessen „politischer" Teil wurde am 21. März 2014 unterzeichnet. Er regelt die politische Zusammenarbeit, Fragen der Sicherheit und den Anti-Terror-Kampf. Der „wirtschaftliche" Teil, der vor allem Regelungen für ein Freihandelsabkommen enthält, wurde erst mit dem neu gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko am 27. Juni 2014 unterzeichnet. Der ukrainische Markt wird nach Umsetzung der EU-Vorschriften durch die Ukraine nahezu vollständig für Warenverkehr und Handel in beide Richtungen geöffnet. Die Ukraine erhält also weitgehend zollfreien Zugang zum Binnenmarkt der EU.
Der Vertrag ist im Vergleich zu den bisherigen Verträgen mit Nicht-Beitrittsländern außerhalb des Wirtschaftsraums der EU aufgrund der weitreichenden vertraglichen Regelungen einzigartig. Er muss allerdings von allen 28 EU-Mitgliedstaaten gebilligt werden. Bei einer Volksbefragung in den Niederlanden votierten am 6. April 2016 rund 61 Prozent gegen das Abkommen; nur 38 Prozent stimmten zu.
EU-Annäherung
versus Russland-Bindung
Die EU hat – wie DIE ZEIT am 28.November 2013 titelte – die Ukraine durchaus „bezirzt", sprich: umgarnt. So versicherte der seinerzeit zuständige EU-Kommissar Stefan Füle vor Beginn des Gipfels der ÖP 2013 in Wilna, die EU halte sich „bereit für eine engere Anbindung der Ukraine".
Wesentlich geschickter wäre es gewesen, dieses „Umgarnen" in Absprache mit Russland zu betreiben oder es zumindest in parallelen Gesprächen von EU-Vertretern mit Moskau zu flankieren. Die wirtschaftlichen Bande zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation waren bis dato durchaus intensiv. Man war gemeinsam Mitglied in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Und dass im Osten der Ukraine eine hohe Zahl von russischstämmigen Ukrainern lebt, die eine Annäherung an die EU vielleicht eher skeptisch sehen, wurde vom Brüsseler „Elfenbeinturm" aus womöglich nicht sensibel genug registriert.
Man bedenke: 50 Prozent der ukrainischen Exporte gingen nach Russland oder in die Republiken der Zollunion, 45 Prozent in die EU. In dieser Wettbewerbssituation bedeuten Vorteile für die EU oder für Russland naturgemäß Nachteile für den jeweils anderen Wirtschaftspartner. Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine stand also von Anbeginn in glasklarer Konkurrenz zur Zollunion Russlands. So bauten sich Spannungen auf, die im Wege geschickter Diplomatie vielleicht einzufangen gewesen wären.
Es erscheint also konsequent, dass sich auch bei uns Stimmen zu Wort melden, die – wie u.a. der Verleger Jakob Augstein oder der ehemalige Bundesminister Erhard Eppler – unmissverständlich aussprechen, dass ein Teil der Schuld an der Ukraine-Krise im Westen zu suchen sei. Denn: Je mehr Russland sich vom Westen unter Druck gesetzt fühlt, desto mehr setzt Russland selber die Länder seiner Einflusszone unter Druck. Es ist höchste Zeit, diesen Faktor im Rahmen der Annäherungsbestrebungen der EU an die östlichen Staaten konkreter und ehrlicher in den Blick zu nehmen. Kein Geringerer als Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat vierzehn Tage vor seinem Tode in höchster Beunruhigung gemahnt: „Hört endlich mit dem Unfug der Sanktionen auf."