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Beitrittsperspektiven für die Ukraine, Moldau und Georgien

Dr. Hans Jörg Schrötter

Politisch betrachtet und analysiert von Dr. Hans Jörg Schrötter, Berlin

Wenn‘s doch nur so einfach wär’! EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen verspricht eine rasche Reaktion auf den Antrag der Ukraine, Mitglied der Europäischen Union zu werden.
„Rasch“? Das weckt Erwartungen. Realpolitiker Emmanuel Macron setzte einen klaren Kontrapunkt. Bei seinem Antrittsbesuch in Berlin am 10. Mai 2022 erklärte er, so ein Beitrittsprozess könne bis zu 10 Jahre dauern.

Der Beginn: die „Östliche Partnerschaft“
Ohne den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands auch nur ansatzweise entschuldigen oder gar rechtfertigen zu wollen, darf man doch feststellen, dass der Grundkonflikt auch in der „Östlichen Partnerschaft“ seine Wurzeln findet. 2009 wurde sie in Prag gegründet; die EU reichte den sechs Ländern Armenien, Azerbaijan, Georgien, Moldau, Belarus und Ukraine die Hand zur Kooperation und engeren Anbindung an die Marktstrukturen der Union. Seinerzeit waren diese Länder, obwohl natürlich souverän, wirtschaftlich und teilweise sicherheitspolitisch überaus eng mit Russland verflochten. Dass die EU diese Partnerschaft dennoch ohne Zusammenarbeit und Dialog mit Russland vor-angetrieben hat, bezeichnete Günter Verheugen rückblickend als „historischen Fehler“. „Russland aus Europa herauszudrängen“, so Verheugen 2017, sei „töricht und gefährlich“ und „der Befriedung unseres Kontinents eher abträglich“. Quod erat demonstrandum.

Immerhin war von vornherein ausdrücklich vereinbart, dass eine EU-Mitgliedschaft nicht das Ziel dieser neuen Partnerschaft sei. Noch auf dem Treffen der ÖP 2015 in Riga stellte Kanzlerin Angela Merkel klar, dass der Hoffnung insbesondere der Ukraine auf eine Beitrittsperspektive nicht entsprochen werden könne.

Dies hatte seine Gründe. Denn – weder die EU noch eines dieser sechs Staaten waren – und sind – „beitrittsfähig“. Daran haben weder der Überfall Russlands auf die Ukraine noch die einhelligen Solidaritätsbekenntnisse und -beweise des Westens etwas geändert.
Nun aber hat die Ukraine Nägel mit Köpfen gemacht und am 1. März 2022 einen Antrag auf Beitritt zur EU gestellt. Moldau und Georgien folgten am 3. März diesem Beispiel.

Der rechtliche Rahmen
Gemäß Artikel 49 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) kann jeder europäische Staat die Mitgliedschaft in der EU beantragen. 1997 allerdings koppelte der Amsterdamer Vertrag diese Mitgliedschaft an Grundsätze, die erfüllt sein müssen. Denn laut Art. 6 Abs. 1 EUV beruht die Union „auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit...“ Außerdem sind die Mitgliedstaaten vertraglich gehalten, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.“

Doch die Beitrittsbedingungen gehen weit darüber hinaus. Schon 1993 haben die Staats- und Regierungschefs der EU in Kopenhagen sehr konkrete Voraussetzungen festgelegt, die ein Neubewerber in rechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht unbedingt zu erfüllen hat. Diese „Kopenhagener Kriterien“ verlangen insbesondere institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten; eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des gemeinsamen EU-Binnenmarktes standzuhalten; die Übernahme des gemeinschaftlichen Regelwerks, des sog. „Besitzstandes“; man spricht vom „Aquis communitaire“.

Schließlich darf die Erweiterung nicht zum Risiko für die Weiterentwicklung der EU werden. Mit anderen Worten: die Union muss ihrerseits den Beitritt verkraften können!

Einen Rechtsanspruch auf Mitgliedschaft gibt es nicht; die Aufnahme in die Union ist eine politische Entscheidung. Das Beitrittsverfahren aber folgt einem genauen „Fahrplan“ und umfasst die drei Phasen Antragstellung, Verhandlung und Ratifizierung (Artikel 49 EUV).

Das Verfahren
Die Anträge lösen eine Prüfung durch die EU- Kommission aus. In einer Stellungnahme („Avis“) kann die Kommission das Verleihen des Kandidatenstatus befürworten oder Vorgaben („Benchmarks“) machen, die das Land zunächst noch erfüllen muss.
Eventuell kann sich die Kommission zusätzlich bereits für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aussprechen. Meist ergeht diese Empfehlung jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Nun muss der Rat der EU – auf der Grundlage des „Avis“ – einstimmig darüber entscheiden, ob er dem beitrittswilligen Land tatsächlich den Kandidatenstatus verleiht. Bis zu diesem Schritt vergehen mitunter einige Jahre.

Hat ein Land den Kandidatenstatus erreicht, überwacht die EU-Kommission dessen Reformfortschritte und hält sie in jährlichen Fortschrittsberichten fest. Bei ausreichenden Fortschritten spricht die Kommission Empfehlungen für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen aus. Auch hier muss der Rat der EU einstimmig zustimmen. Ist auch diese Klippe umschifft, erteilt der Rat der Kommission ein Mandat zur Aufnahme von Verhandlungen. Legt ein Mitgliedstaat ein Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ein – wie jüngst Bulgarien bezüglich Nordmazedoniens – , kann sich der Beginn der Verhandlungen erneut um Jahre verzögern.

In den Beitrittsverhandlungen werden alle Bereiche verhandelt, die für die künftige Mitgliedschaft eine Rolle spielen – wie u.a. die Wirtschaftspolitik, die Außenpolitik oder die Rechtsstaatlichkeit. Ziel ist die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes der EU, also des „Acquis communitaire“, durch das Kandidatenland. Der Acquis wird im Rahmen der Verhandlungen in 35 Kapitel unterteilt.

Die Verhandlungen verlaufen zweispurig. Im Rat der EU legen die Mitgliedstaaten den Verhandlungsrahmen fest. Die Verhandlungen selbst führt die Kommission mit der Regierung des Kandidatenstaates. In sogenannten „Beitrittskonferenzen“ wird über Öffnung und Schließung jedes einzelnen Verhandlungskapitels entschieden, und zwar nach einstimmiger Zustimmung aller Mitgliedstaaten.

Kommt es zu keinen Fortschritten oder gar zu Rückschritten, können einzelne Kapitel auch suspendiert werden – wie vielfach im Fall der Türkei geschehen. Auch die Verhandlungen insgesamt können ausgesetzt werden. Eine seit 2004 existierende „Suspensions-Klausel“ sieht das Aussetzen von Beitrittsverhandlungen vor bei schwerwiegenden Verletzungen der Grundwerte der EU wie Freiheit, Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit.

Sind alle Kapitel erfolgreich geschlossen, wird ein Beitrittsvertrag entworfen, der die Verhandlungsergebnisse enthält – sowie etwaige Übergangsfristen, Schutzklauseln und das voraussichtliche Beitrittsdatum.

Der Beitrittsvertrag bedarf der Billigung durch den Rat der EU, die EU-Kommission sowie das Europäische Parlament.

Mit Vertragsunterzeichnung erhält das Land den Status eines „beitretenden Staates“ und damit schon gewisse Vorrechte; so kann es nun bereits an Sitzungen der EU-Organe als „aktiver Beobachter“ teilnehmen und besitzt dort ein Rede-, aber kein Stimmrecht.

Schließlich muss der Beitrittsvertrag von allen 27 EU-Mitgliedstaaten sowie dem beitretende Land gemäß deren jeweiligen nationalen Bestimmungen ratifiziert werden. Ist dieser Prozess abgeschlossen, tritt der Vertrag in Kraft und besiegelt die Vollmitgliedschaft des beitretenden Staates.

„National overstretch“?
Mit den fünf Beitrittskandidaten Serbien (Verhandlungen seit 2014), Montenegro (Verhandlungen seit 2012), Albanien (Kandidat seit 2014), Nord-Mazedonien (Kandidat seit 2005) und der Türkei (Verhandlungen seit 2005), den potentiellen Beitrittskandidaten Bosnien-Herzegowina (Beitrittsantrag 2016) und Kosovo (noch kein Antrag) sowie den drei neuen Bewerbern stehen nun 10 Aspiranten vor den Toren Brüssels.

Sie alle bitten um Einlass in einen Club, der leider keineswegs in der inneren Verfassung zu sein scheint, einen Zuwachs in diesen Dimensionen verkraften zu können. Die Entscheidungsfindung bei Fragen, die dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen, ist schon heute ungeheuer mühsam. Die Risse innerhalb der Union etwa zwischen Nord und Süd, Ost und West, Gründer- und Beitrittsstaaten, Euro- und Nicht-Euro-Ländern, zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern oder bezüglich der Visegrad-Staaten lähmen die Handlungsfähigkeit der Union und sind zudem von ungeahnter Bremswirkung, wenn es um bestimmte Weiterentwicklungen der EU beispielsweise hin zu einer echten Föderation geht.

Die Ukraine wäre in diesem bunten Konzert das viertgrößte Land – mit entsprechendem Stimmengewicht in den Gremien. Die Erfahrungen mit den 2004 und 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten haben gezeigt, dass Länder, die über sieben Jahrzehnte ihre Souveränität im damaligen „Ostblock“ nicht ausleben durften, nun keineswegs bestrebt sind, ihre neu gewonnenen nationalen Spielräume sogleich wieder in Brüssel an der Garderobe abzugeben.

Schließlich würden der Ukraine Fördergelder in ungeheurem Ausmaß zustehen. Die „Nettozahler“ gerieten endgültig in die Minderheit.
Kurzum – die EU ist auf dem besten Weg, sich zu überheben. Alternative Kooperationsmodelle sind dringend gefragt – wie etwa die von Angela Merkel bereits vor Jahren im Hinblick auf die Türkei propagierte „Privilegierte Partnerschaft“.

Schließlich sei daran erinnert, dass für die Staaten der EU seit 2009 eine gegenseitige Verteidigungsverpflichtung besteht; im Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Gebiet eines Mitgliedstaates müssen die anderen EU-Staaten jede in ihrer Macht stehende Unterstützung leisten.
All dies gilt auch für künftige Mitglieder – wobei es Grenzen der Erweiterung geben muss. Ein „imperial overstretch“, so lehren es Historiker wie Herfried Münkler, war seit jeher eine Ursache für den Untergang großer Reiche.


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