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Die EU und Corona – eine Bewährungsprobe der besonderen Art

Dr. Hans Jörg Schrötter

Politisch betrachtet und analysiert von Dr. Hans Jörg Schrötter, Berlin

„Stirbt die EU an Corona, Frau von der Leyen?“ Fragte BILD am 11. April 2020. Die Sorge war weit verbreitet, in Brüssel wie auch in vielen Mitgliedstaaten. Die Staatengemeinschaft schien mit der Pandemie anfangs überfordert.

Der niederländische Historiker Luuk van Middelaar aber schrieb: „Eine Krise offenbart, wie ein System reagiert und wozu es fähig ist.“ Im Chinesischen gibt es für „Krise“ und für „Chance“ nur ein Zeichen.

Im Kern getroffen
Unsere EU ist krisenerprobt. Aber Corona hat die Union in ihrem Kern getroffen. Plötzlich schien sie für alle erkennbar wieder in Einzelstaaten zu zerfallen. Unser Binnenmarkt lebt vom ungehinderten Austausch von Waren und Dienstleistungen. Nun aber wurden Grenzen geschlossen. Jeder vertraute zunächst seinem eigenen nationalen Management. Die Mitgliedsländer gingen zudem sehr unterschiedlich vor: Schweden verzichtete auf strenge Kontaktverbote; Italien und Spanien riefen monatelang den nationalen Notstand aus und erließen strikte Ausgangssperren.

Laut Frühjahrsprognose der EU-Kommission.sei die Wirtschaft der EU 2020 in vielen Bereichen dramatischer betroffen gewesen als in der Finanzkrise 2009. Besonders Südeuropa erlebte hohe Wachstumseinbußen. Und so drängten allen voran Italien, Spanien und Frankreich auf weitreichende Finanzhilfen mit dem Hinweis, sie seien schließlich nicht selbstverschuldet in diese Lage geraten. Nur – stimmte das? Für den exogenen Schock der Pandemie mag es zutreffen – nicht jedoch auf den verringerten Verschuldensspielraum, der stark durch die eigene Wirschaftspolitik dieser Staaten geprägt ist.

Gespenst „Corona-Bonds“
Und schon tauchte sie wieder auf, wie Kai aus der Kiste, die seit Jahren diskutierte Frage: Brauchen wir angesichts dramatischer Notlagen in südlichen EU-Mitgliedsländern doch Eurobonds?

Um es kurz zu machen: Grundsätzlich muss jeder Euro-Staat für die von ihm zu verantwortenden Schulden selbst einstehen. So bestimmt es Artikel 125 Abs. 1 AEUV (sog. Nichtbeistands-Klausel). Mit Eurobonds hingegen würden die EU-Staaten, die den Euro eingeführt haben, gemeinsam Schulden am Kapitalmarkt aufnehmen, diese Mittel unter sich aufteilen und gesamtschuldnerisch für Rückzahlung und Zinsen haften – was nach verbreiteter Auffassung dem EU-Recht widersprechen würde.

Vielfach wird auch der Faktor Disziplin angeführt: Gemeinsamen Anleihen setzten falsche ökonomische und politische Anreize. Der Spardruck ließe nach, und bonitätsschwache Länder würden gerade nicht dazu animiert, solide Haushalte vorzulegen und die Verschuldung abzubauen.
Die Niederlande, Österreich sowie die skandinavischen und baltischen Staaten waren und sind daher aus guten Gründen gegen Gemeinschafts-Bonds. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte anlässlich des EU-Gipfels am 26./27. März 2020, dass sie das Vorhaben nicht unterstütze.
Die Bruchlinie wurde unübersehbar, als im März 2020 Italien, Spanien, Frankreich und sechs weitere EU-Länder in einem Brief den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, vehement „Corona-Bonds“ als gemeinsames Schuldeninstrument im Kampf gegen die Pandemie forderten.
Gut in Erinnerung ist mir die Szene im TV, als seinerzeit Italiens Ministerpräsident Guiseppe Conte mit wie üblich perfekt sitzender Krawatte geradezu flehentlich, erkennbar den Tränen nahe, um Corona-Bonds warb.

Weniger beachtet wurde ein Aspekt, den uns die Stiftung Marktwirtschaft in ihrem Beitrag „EU-Stabilität nach Corona“ vor Augen führte: „Der italienische Staat mag arm ein; seine Bürger sind es indes nicht. Die EZB schätzt, dass der mittlere italienische Haushalt wesentlich vermögender ist als der europäische Durchschnitt – und fast doppelt so vermögend wie der mittlere deutsche Haushalt“. Der Unterschied gehe nicht nur auf unterschiedliche Immobilienvermögen oder Rentenanwartschaften zurück, sondern auch auf erheblich geringere Abgabenquoten in den südeuropäischen Staaten. (Stiftung Marktwirtschaft, „EU-Stabilität nach Corona“, 2020, S. 6).

Der Ausweg: „Next-Generation-EU“
Bevor die Kontroverse eskalierte, erfanden Emmanuel Macron und Angela Merkel eine Lösung, die zwar massiv von Deuschland zu finanzieren ist, die aber eine dauerhafte Institutionalisierung gemeinsamer Schuldenaufnahmen – gerade noch – vermeidet: man beschloss, nach dem zweitlängsten Sitzungsmarathon in der Geschichte des Europäischen Rates, am 21. Juli 2020 einen Corona-Wiederaufbaufonds im Umfang von 750 Milliarden Euro. 250 Milliarden Euro sollten an Krediten vergeben werden; weitere 500 Milliarden Euro wollte man als nicht rückzahlbare Zuschüsse unter die von der Corona- Pandemie besonders betroffenen EU-Staaten streuen.

Sofort tat sich eine neue Bruchlinie auf –die „Nord-Süd-Perspektive“: „Nettozahler“ wie Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande (die sog. „sparsamen Vier“), unterstützt von Finnland, meldeten heftige Bedenken gegen den diesem Vorschlag immanenten Paradigmenwechsel an, dass nämlich zur Finanzierung dieses gigantischen Hilfspakets erstmals im großen Stil im Namen der EU Schulden aufgenommen und gemeinsam über Jahrzehnte getilgt werden sollen – und zwar von allen EU-Staaten. Eine solche „Vergemeinschaftung von Schulden“ gab es bisher in der EU nicht.
Schließlich einigte man sich auf Druck der „sparsamen Vier“ auf eine neue Aufteilung; 360 Milliarden werden nun als Kredite, nur noch 390 Milliarden Euro als Zuschüsse vergeben.

Wer profitiert?
Hauptprofiteur ist – mit 80 Milliarden Euro an Zuschüssen und 127 Milliarden Euro an Krediten – eindeutig Italien, gefolgt von Spanien mit 72 Milliarden an Zuschüssen und 68 Milliarden Euro an Krediten. Frankreich erwartet rund 40 Milliarden Euro. Die begünstigten Staaten sollen in nationalen „Reformplänen“ darlegen, wie sie das Geld einsetzen wollen. 30 Prozent sollen der Umwelt dienen.

Die Migliedstaaten geben zunächst nur Garantien ab, eines Tages für diese Anleihen geradezustehen. Der deutsche Anteil beläuft sich im Fall des Falles auf stolze 200 Milliarden Euro – ein Betrag, den Italien auf der anderen Seite einkassiert. Zurückzahlen soll die EU die 750 Milliarden Euro Schulden bis Ende 2058, und zwar beginnend noch im Rahmen des aktuellen Mehrjährigen Finanzrahmens.

Ist damit die „Fiskalunion“ Wirklichkeit?
1. Wir haben es mit einem echten Transfer zu tun; die EU hat nun Eigenmittel. Die gemeinsame Verschuldung lässt die EU-Kommission zu einem entscheidenden finanzpolitischen Akteur in der Union werden.

2. Anders als etwa die Hilfsmittel aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der unter der Kontrolle der Euro-Staaten steht und auf den weder EU-Kommission noch Europäisches Parlament Zugriff haben, unterliegt der Corona-Fonds der EU Gesetzgebung.

3. Wir sehen eine exorbitante Weiterentwicklung: erstmals erhielt die EU-Kommission die Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel. Es ist also keinesfalls abwegig, wenn Emmanuel Macron frohlockte, die EU-Behörde avanciere nun zum „europäischen Schatzamt“, und seine Forderung nach einem „europäischen Finanzminister“ sei ein Stück weit umgesetzt worden.

Bewährungsprobe bestanden?
Offiziell gesehen, wirkte die Krise als Chance. Das Echo allerdings klang vielstimmig.
In jedem Fall hat Macron recht, wenn er den Systemwechsel der gemeinsamen Schuldenaufnahme „historisch“ nennt und konstatiert, für die EU habe eine neue Etappe „echter Transferzahlungen“ und neuer Eigenmittel begonnen.

Berthold Kohler bewertete in der FAZ vom 22. Juli 2020 den Brüsseler Kompromiss dagegen als „mit einer präzedenzlosen Verschuldung erkaufte Kraftanstrengung“, um den Absturz in eine wirtschaftliche und soziale Depression zu verhindern.

Einige Stimmen lobpreisen die Aufnahme europäischer Schulden ohne die Existenz eines europäischen Staates als großartiges Einigungswerk. Andere sehen darin nichts anderes als das Eingeständnis, dass einige Länder, und nicht nur die kleinen, dem Zustand der Überschuldung bedenklich nahe sind. Die Stiftung Marktwirtschaft fasst es so zusammen: „ Aus Krisenlösungen werden oft Dauereinrichtungen, wie der ESM belegt.“ Zudem profitierten die Staaten extrem ungleich; mehr als die Hälfte der Hilfen kämen lediglich fünf Staaten zugute. „Die zuvor ausgeschlossene Tansfer-union mit Finanztransfers von Nord- nach Südeuropa wird auf Jahre zementiert“.

Die Bruchlinie „Rechtsstaatlichkeit“
Eine weitere Kontroverse tat sich auf bei dem Versuch, die Vergabe solcher großzügigen Mittel an die EU-Standards bei der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Man biss bei Victor Orban bekanntlich auf Granit. Macron soll den Ungarn gedroht haben: „Kein Rechtsstaat, kein Euro“. Die Antwort soll gelautet haben: „Mit Rechtsstaatsmechanismus kein Fonds“.

Der letztlich erzielte Kompromiss ist vage formuliert. Es heißt darin, dass die Staats- und Regierungschefs „die Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen der EU und des Respekts der Rechtsstaatlichkeit“ unterstreichen. Sind damit Sanktionen unmöglich? Nein, sagte Frau von der Leyen; mit qualifizierter Mehrheit könnten bei Verstößen „Maßnahmen“ ergriffen werden.

Ganz anders Victor Orban: er habe „einen großen Sieg durchgeboxt“. Es sei ihm gelungen, nicht nur eine „große Menge Geld“ für Ungarn herauszuschlagen, sondern auch den ungarischen Nationalstolz zu verteidigen.

Hat Corona Tendenzen zur Kleinstaatlichkeit gefördert?
Was Brüssel heute unter der Chiffre „Rechtsstaatlichkeit“ behandelt, wurzelt tiefer. So wollen die östlichen Länder nach 70 Jahren unter sowjetischer Vorherrschaft offenbar endlich wieder ihre Souveränität und Staatlichkeit leben und ausleben. Bei allem Verständnis aber gilt: auch für die 2004 und 2007 beigetretenen Staaten, dass sich unsere Gemeinschaft keinesfalls auf eine bloße Freihandelszone beschränkt. Ohne das Bewusstsein gemeinsamer Identität wäre eine europäische Solidarität, von der gerade die neuen Mitgliedstaaten massiv profitieren, schwer einzufordern.

Und der Norden? Die „sparsamen Vier“? Auch die Verbindung von Dänemark, Schweden und Finnland zur EU ist nicht unkompliziert; sie war nie eine Herzenangelgenheit, eher eine Vernunftehe. Man ist sehr zurückhaltend bei einer vertieften politischen Integration und lehnt eine Vergemeinschaftung von Schulden ab.

Die divergierenden Bewertungen, welche Rolle den Nationalstaaten zukommen – oder verbleiben – soll, kulminierten in der Flüchtlingskrise 2015. Das Konzept der EU, Flüchtlinge nach fairen Quoten zu verteilen, markierte eine Zäsur der – mancherorts so registrierten – Überdehnung europäischer Einflussnahme. In der Abwehr verstärkten sich quasi automatisch Tendenzen der Dezentralisierung und Renationalisierung.
Wolfgang Streeck, aus der Sicht klassischer Europa-Befürworter eine Art „Querdenker“, beobachtet eine „Verteidigung des Nationalstaates als Ort und Hort des Schutzes gegen die gesellschaftszerlegende Beliebigkeit von Märkten“. Sein Fazit: „Beides zusammen, Globalisierung und Demokratie, ist nicht im Angebot“ (CICERO 9 / 2021, S.107).

Derart schwarz muss man es nicht sehen. Dem Ziel einer echten Union oder Föderation hat uns die Corona-Pandemie kaum näher gebracht. Sie hat eher die Risse deutlich gemacht. Aber – sie hat die EU nicht zerrissen. Der Corona-Wiederaufbaufonds war ein Signal, dass die Idee der Europäischen Integration sehr wohl Zukunft hat.


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