Der Euro - die neue Lira? Wie die EZB die Gemeinschaftswährung weich spült
„Der Euro – so stark wie die Mark“, so der verheißungsvolle Titel einer offiziellen Broschüre der Bundesregierung, mit der man uns 2002 über den Verlust der D-Mark hinwegtrösten wollte. Heute, 20 Jahre später, erklingen andere Töne: „Der Euro wird zur Lira“ (WELT am Sonntag, 24.7.2022, S. 15).
Die Staatsschuldenkrise war nie weg
Es ist allgemein bekannt: der zentrale Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung, das Fehlen einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalpolitik aller 19 Euro-Länder, ist alles andere als behoben. Die Mehrheit der nationalen Parlamente und Regierungen steht einer weitergehenden Übertragung fiskalpolitischer Entscheidungs- und Durchgriffsrechte auf die europäische Ebene skeptisch bis ablehnend gegenüber; eine „Europäisierung“ scheint eher bei der Vergemeinschaftung von Kosten, Risiken und Schulden – Stichwort Eurobonds – populär.
Tatsächlich steuert die Europäische Union auf ein massives staatliches Schuldenproblem zu. Der sog. Stabilitätspakt erlaubt eine Schuldenaufnahme von maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Sieben der 19 Euro-Staaten aber haben inzwischen eine Schuldenquote von mehr als 100 Prozent. Spanien kommt mit 120 Prozent locker auf das Doppelte. Italien wäre nicht Italien, wenn es hier mit 150 Prozent nicht „besser“ wäre. Und Griechenland kommt sogar auf 190 Prozent. Weniger bekannt – das mittlere private Vermögen eines Italieners ist genau doppelt so hoch wie das eines Deutschen. Auch die Spanier übertreffen die mit Steuern, Sozialabgaben u.ä. erheblich belasteten Deutschen in puncto Privatvermögen erheblich.
Dies ist die Situation. Angesichts des bedenklich hohen Schuldenstandes einiger Euro-Staaten, aufgrund steigender Zinsen und einer nicht mehr auszuschließenden globalen Rezession wachsen die Sorgen vor einer erneuten Staatsschuldenkrise in Europa. Im Klartext: die sog. Eurokrise, in Wahrheit eine Staatsschuldenkrise, ist alles andere als vorbei.
Die Rolle der EZB
Mit dem Ruf „whatever it takes“ leitete 2012 der damalige Präsident der EZB, Mario Draghi, einen regelrechten Dammbruch ein. Seine lange praktizierten und ständig ausgeweiteten Anleihenkäufe – man nannte sie dezent „unkonventionelle Maßnahmen” – sorgen heute für ziemlich konventionelle Kopfschmerzen, Schulden und – nicht zuletzt – für heftige Inflation.
Es mag sein, dass Draghis Blankoscheck im Sommer 2012 die Währungsunion zusammengehalten und den Euro kurzfristig stabilisiert hat. Leider haben viele nationale Regierungen diesen Blankoscheck aber nicht zur durchgreifenden Sanierung ihrer Staatshaushalte genutzt. Sie haben im Gegenteil die Chance niedriger Zinsen zu mitunter zügelloser Verschuldung missbraucht; es wurde nicht investiert, sondern konsumiert. Prof. Michael Eilfort, Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, fasst es so zusammen: „Bequemen nationalen Regierungen hat die EZB so das Nichtstun versüßt, und sie …. abhängig vom billigen Geld werden lassen.“
Das Resultat: die EZB steckt in einer klassischen Zwickmühle. Nicht nur die Geldentwertung hat ein Rekordniveau erreicht, sondern auch die Verschuldung etlicher Mitgliedstaaten.
Das „Urproblem“
Kehren wir zum Urproblem zurück. Die Faustregel lautet: höhere Staatsverschuldung – höhere Zinsen. Mit der Gemeinschaftswährung kam zunächst die Wahrnehmung auf, als seien die sehr unterschiedlichen Bonitäten der Euro-Länder gleichsam in einem nivellierenden Kabel gebündelt. Alle zahlten nun ähnliche Zinsen. Mit der Bankenpleite 2009 flog der Etikettenschwindel auf. Man schaute wieder auf den konkreten Schuldenstand jedes einzelnen Landes. Hans-Werner Sinn sagte es so: „Eine Konföderation kann nur existieren, wenn Staaten, die sich höher verschulden, höhere Zinsen zahlen müssen“.
Die Rückbesinnung auf dieses Grundprinzip kam nun Staaten wie Spanien, Portugal, Irland oder auch Italien und vor allem Griechenland, die sich jahrelang unter dem Euro-Mantel verstecken konnten, teuer zu stehen. Aber auch für alle anderen wurde es teuer. Mit gewaltigen „Rettungsschirmen“ und schließliich dem 700 Milliarden Euro schweren ESM, dem „Europäischen Stabilitätsmechanismus“, für den Deutschland im Fall des Falles mit 200 Milliarden Euro geradesteht, stemmten sich die Mitgliedstaten gegen die drohenden Staatspleiten der obigen Euroländer – und damit gegen ein Scheitern der Gemeinschaftswährung. Der Preis war hoch, nicht nur wegen der bereitgestellten Geldmengen; preisgegeben wurde de facto das in den Verträgen verankerte Kerngebot des no-bailout: Kein Migliedstaat haftet für Schulden eines anderen Mitgliedstaates. De facto aber ist genau das passiert. Es war die Geburtsstunde von Begriffen wie „Schulden- union“ oder Transfer-Union“ (siehe mdw-Magazin, Sommer 2020, S. 14/15).
Das „Transmissions-Schutzinstrument“ (TPI)
Und heute? Schon wird wieder in die Trickkiste gegriffen. Das sog. TPI sieht nämlich vor, dass die EZB gezielt die Staatsanleihen schwächelnder Euro-Länder kauft – und dies notfalls „unbegrenzt!“ EZB-Chefin Christine Lagarde hält also nicht nur den Geldhahn für die Steuersünder offen; Länder wie Italien sollen sich weiter ähnlich günstig Kredite besorgen können wie die solideren Staaten. Statt der – überfälligen – Aufforderung an verschuldete Staaten, endlich ihre nationalen Haushalte in Ordnung zu bringen, sehen wir ein gezieltes „weiter so“.
Ökonomen in Deutschland kritisieren Lagardes Manöver scharf: „Zinsen sind eine Schulden- und Inflationsbremse. Dieser Selbststabilisierungsmechanismus der Marktwirtschaft wird mit den neuen Instrument fundamental geschwächt“, sagt Hans-Werner Sinn.
So setzt Frau Lagarde den umstrittenen Kurs ihres Vorgängers Draghi fort. Das Vorbild der geldpolitischen Tradition einer Deutschen Bundesbank, die über Jahrzehnte die D-Mark zu einer Hartwährung geformt hatte, ist Geschichte. Präsident Emmanuel Macron wußte genau, warum er eine Deutsche in das Amt der EU-Kommissionspräsidentin hineinlobte – und im Gegenzug eine Französin an die eigentlichen Machthebel der Geldpolitik beförderte. Angela Merkel spielte mit. Es hatte Methode: bis auf eine halbe Amtszeit eines Niederländers beim Start der Währungsunion stand stets entweder ein Franzose oder ein Italiener an der Spitze der EZB.
Ausblick ins Ungewisse?
Es wäre an der Zeit, die Ursachen der Inflation und die Fehlkonstruktion der Währungsunion anzugehen. Stattdessen wird das Rad der Geldvermehrung nur noch schneller gedreht, der Weg in die Schuldenunion mehr und mehr zur Rutschbahn. Die Enteignung von Mittelschicht und Armutsgefährdeten hat inzwischen eine unübersehbare Dynamik erreicht.
Vielleicht läßt sich das Desaster europäischer Währungs- und Fiskalpolitik tatsächlich zugespitzt in dieser Frage zusammenfassen: „Der Euro – die neue Lira?“