"Will man die deutsche Einheit wirklich vollenden, muss auch das Geschichtsbuch der alten Bundesrepublik geöffnet werden"
mdw: Herr Krenz, 2018 präsentierten Sie Ihre Sicht zum Fernen Osten („China – wie ich es sehe“). Im Jahr darauf schrieben Sie über den etwas näheren Osten („Wir und die Russen“). Nun sind Sie wieder daheim. Was veranlasste Sie, mit dem bekannten Rechtsanwalt Friedrich Wolff über den deutschen Rechtsstaat zu diskutieren?
Egon Krenz: Seine einzigartige Biografie weist ihn als kompetenten Zeitzeugen des Jahrhunderts aus. Der Rechtsstaatsbegriff und der wissenschaftlich unhaltbare ideologische Oppositionsbegriff „Unrechtsstaat“ sind Vokabeln der politischen Auseinandersetzung. Sie spielen eine zentrale Rolle bei der Glorifizierung der Bundesrepublik einerseits und der Diffamierung der DDR andererseits. Es handele sich, so eine Behauptung von DDR-Totalkritikern, bei der Bundesrepublik um einen Rechtsstaat, bei der DDR hingegen um einen „Unrechtsstaat.
Mein Gesprächspartner ist ein ausgezeichneter Kenner der Materie. Friedrich Wolff, Jahrgang 1922, stammt aus einer jüdischen Arztfamilie, erlebte Faschismus und Krieg bei vollem Bewusstsein und zog daraus seine Schlüsse. 1945 wurde er Mitglied der KPD, 1946 der SED, studierte Jura an der Humboldt-Universität, war viele Jahre Rechtsanwalt und Vorsitzender des Berliner Rechtsanwaltskollegiums. Als Strafverteidiger war er in verschiedenen politischen Verfahren aktiv, verteidigte sowohl Oppositionelle aus der DDR und seit 1990 DDR-Bürger, die von der Bundesrepublik kriminalisiert wurden, darunter auch Erich Honecker. Er ist wie ich ein Linker ohne Parteibuch. Es wäre geradezu ein politisches wie moralisches Versagen, seine profunden Kenntnisse und Erfahrungen bei der Beurteilung der DDR-Geschichte ungenutzt zu lassen. Jedes Gespräch mit dem fast 100-Jährigen ist ein geistiger Gewinn.
mdw: Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen der Rechtsordnung der DDR und der Bundesrepublik?
Egon Krenz: Beide Rechtssysteme fußen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Vor-aussetzungen. Marx nannte dies Produktions- oder Klassenverhältnisse. Heute stellt man zwar oft die Existenz von Klassen in Abrede, aber sie existieren trotzdem unverändert. Die Formel von den Armen und den Reichen und die Kluft, die sich zwischen beiden immer tiefer auftue, die Schere, die weiter auseinandergehe, ist nichts anderes als die Beschreibung der Klassenverhältnisse, die es im Kapitalismus nun mal objektiv gibt. Wer das offen publiziert wie die Zeitung „junge welt“, wird schon mal vom Verfassungsschutz ausspioniert. Aus der Sicht ihrer politischen Hauptgegner ist die größte Sünde der DDR, dass das Kapital 40 Jahre keinen Zugriff auf den deutschen Osten hatte. Aus meiner Sicht hinterlässt die DDR wichtige Zukunftswerte: Eine Gesellschaft ohne Kapitalisten ist möglich. Der Mensch ist mehr als ein Marktfaktor. Der Umgang der Menschen miteinander ist frei von Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Geld ist nicht alles im Leben.
mdw: Sie berichten in dem Buch über ein Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker über den Rechtsstaat. Wie war das?
Egon Krenz: Das war 1981 in der Schorfheide, als der Bundeskanzler Erich Honecker besuchte. Beide saßen entspannt am Kamin und tauschten Erfahrungen über das Regieren aus. Schmidt beneidete Honecker, dass der angeblich leichter regieren könne als er in Bonn. Honecker habe ein Politbüro und könne alles durchstellen. Er dagegen habe mehrere juristische Risiken zu überwinden. Die Bundesrepublik, so Schmidt pointiert, sei nämlich in Wahrheit kein Rechtsstaat, sondern ein „Gerichts- oder Gerichtsmittelstaat.“ Er beklagte bei Honecker gar, dass das Bundesverfassungsgericht „mit unglaublicher Arroganz politische Fragestellungen juristisch entscheidet.“ Letztmalig musste ich an diese Äusserungen denken, als das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel kippte.
mdw: Sie sprechen in dem Buch von einer Justizreform der DDR, die Sie auf den Weg gebracht haben. Können Sie das etwas näher erläutern?
Egon Krenz: Ja, das war 1987. Als einziges Land im Warschauer Vertrag und ohne Zustimmung durch die Gorbatschow-Führung haben wir eine umfassende Justizreform verabschiedet mit der Abschaffung der Todesstrafe, der Bildung einer zweiten Instanz, um Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Obersten Gerichts einlegen zu können, mit einer umfassenden Amnestie für Straftäter – ausgenommen nur Nazi- und Kriegsverbrecher sowie Mörder und Gewaltverbrecher. Nach 1990 gibt es Neunmalkluge, die behaupten, dies sei die Bedingung Kohls für den Staatsbesuch Honeckers in der BRD gewesen. Das ist Unsinn. Die Entscheidung hat mit Honeckers Staatsbesuch nur insofern zu tun, dass Franz-Josef Strauß den DDR-Staatsratsvorsitzenden mit den Worten lobte, nicht einmal Frankreich habe sich getraut, die Todesstrafe abzuschaffen. Die DDR habe Mut bewiesen.
mdw: Ihr Gespräch beginnt mit einem Ausflug in die Vergangenheit, und Sie fragen, wie sauber sind die Westen im Westen? Vornehmlich Wolff, einst Pflichtverteidiger von Oberländer und Globke, spricht über diese Schauprozesse. Diese Namen kennt heute kaum noch einer, wir schreiben 2021. Meinen Sie wirklich, dass sich jemand dafür interessiert?
Egon Krenz: Zunächst: Oberländer war Minister im Kabinett Adenauer und in der Nazizeit an der Erschießung von Juden beteiligt. Globke leitete das Bundeskanzleramt und hatte bei den Nazis die Nürnberger Rassengesetze kommentiert. Beide wurden in der DDR in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Ihr Pflichtverteidiger in den gegen sie geführten Prozessen in der DDR war mein Gesprächspartner Fritz Wolff, der in unserem Buch anschaulich darüber berichtet. Ich war damals Anfang zwanzig und verstand noch nicht, dass ein DDR-Anwalt Nazi- und Kriegsverbrecher vertritt, lernte erst später dazu, dass ein Verteidiger nicht die Tat, sondern den Täter verteidigt. Natürlich waren das politische Prozesse, die auch der Aufklärung der Bevölkerung über die Verbrechen der Nazis und ihre Nichtverfolgung im Westen dienten. Sie haben Recht, die Namen der Täter sind nachwachsenden Generationen kaum noch bekannt. Leider! Gerade deshalb ist es wichtig, immer wieder Roß und Reiter zu benennen. Wenn heutzutage über Ursachen von Antisemitismus und Rassismus gesprochen und daran erinnert wird, dass der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch, wird allzuoft vergessen, dass Nazitäter in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik hohe politische Verantwortung im Staat und in den Parteien trugen. Vergessen wird auch, dass nach 1990 in der DDR verurteilte Nazimörder rehabilitiert und entschädigt wurden, während man Antifaschisten mit Rentenentzug bestrafte. Mit einem Satz: Die Westen im Westen sind keineswegs so sauber wie man vorgibt.
mdw: Sie sagen, mit der Justiz lässt sich Geschichte nicht aufarbeiten. Über Sie wurde ebenfalls zu Gericht gesessen. Warum? Glauben Sie nicht auch, dass es vielleicht nicht ganz korrekt ist, wenn die subjektive Sicht zum Maßstab aller erhoben wird?
Egon Krenz: Ich sehe das inzwischen ziemlich gelassen. Die über 100 000 durch die bundesdeutsche Justiz eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen DDR-Verantwortungsträger und spätere Gerichtsurteile schaden geschichtlich gesehen dem Ansehen der Bundesrepublik, weil sie ihre eigenen Regeln – so das uralte Rückwirkungsverbot – verletzen musste, um uns überhaupt juristisch verfolgen zu können. Die Geschichte wird uns frei sprechen. Das ist meine Überzeugung. Staatsanwaltschaft und Medien haben mich zum Erfinder des Wortes „Siegerjustiz“ gemacht, obwohl ich persönlich diesen Begriff meide. Mir ist ein anderer lieber: Klassenjustiz! Nicht etwa, dass ich nicht sehe, dass die vermeintlichen Sieger über die Besiegten urteilen. Nein, Siegerjustiz ist ein Begriff der Nazis gegen die Urteile der Nürnberger Prozesse. Mit den Nazis will ich nichts teilen, nicht einmal Begriffe. Im übrigen: So sicher ist es nicht, wer denn über grössere historische Zeiträume betracht Sieger der Geschichte sein wird. Bis heute jedenfalls ist nicht eingetroffen, was 1990 prophezeit wurde: Das Ende der Geschichte. China ist ein markantes Beispiel dafür.
mdw: Es macht das Wort von der Aufarbeitung der Aufarbeitung die Runde. Das reklamieren auch Sie für Ihr Buch. Was verstehen Sie darunter? Warum und auf welche Weise wurde nach der Übernahme der DDR selbst das bürgerliche Recht gebeugt?
Egon Krenz: Am Anfang stand der regierungsamtliche Auftrag, die DDR zu delegitimieren und die Tätigkeit der Treuhand, die Millionen DDR-Bürgern Eigentum, Arbeit und Brot nahm. Inzwischen findet quasi ein Kulturkampf des politischen und medialen Mainstreams statt gegen das individuelle Erinnern, gegen das Bestreben, die DDR differenziert sowie im Kontext mit der Welt- und der bundesdeutschen Geschichte zu betrachten. Ich halte es für eine Unsitte, geschichtliche Prozesse durch Basta-Urteile von Parlamenten zu bewerten – wie dies zum Beispiel Anfang der neunziger Jahre durch einen Bericht einer Enquetekommission des Deutschen Bundestages von über 15 000 Seiten geschah. Will man die deutsche Einheit wirklich vollenden, muss auch das Geschichtsbuch der alten Bundesrepublik geöffnet werden. Würden die Akten aller Bundesregierungen und ihrer Geheimdienste so zugänglich sein, wie es heute die Akten der DDR sind, viele Bundesbürger würden erschüttert sein, was da alles hinter den Kulissen gelaufen ist. Sofern der Glaube vorhanden war, dass in der alten Bundesrepublik alles besser, sauberer, moralischer und demokratischer als in der DDR gewesen wäre, bräche er wie ein Kartenhaus zusammen.
mdw: Eine vielleicht ungehörige Frage: Mal angenommen, Sie wären dreißig Jahre jünger, also so alt wie Sie es waren, als Sie Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender wurden. Würden Sie noch mal in die Politik gehen?
Egon Krenz: Verantwortung zu übernehmen, liegt wohl in meiner DNA. Es käme aber auf die Bedingungen an. Regieren um jeden Preis – käme für mich nicht in Frage.
mdw: Und, was wird Ihr nächstes Buch?
Egon Krenz: Mal sehen, wie die Kraft reicht. Stoff habe ich noch genug. In meinem Archiv liegt noch viel Unerledigtes. Solange Leben in mir ist, gebe ich keine Ruhe.
Mit Egon Krenz sprach
mdw-Chefredakteur André Wannewitz