Fast 40 Jahre Lehrer in Stendal
Von André Wannewitz
Glaubt man den Stasiberichten, die Inoffizielle Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes über den Stendaler Lehrer Helmut Wannewitz, mein Vater, bis 1989 eifrig erstellt hatten, war er zu sozialistischen Zeiten ein sehr familienorientierter Mensch, der ein Eigenheim baute, seinen Zaun strich, die Erträge seines Erdbeer- und Gurkenackers zu Geld machte und dabei des Öfteren die Teilnahme am Pädagogischen Rat oder am Parteilehrjahr vergaß. Dass Wannewitz darüber hinaus ehrenamtlich mehr als 30 Jahre als Reiseleiter für das DDR-Reisebüro und für die Urania tätig war, machte ihn in der DDR zu einem sehr engagierten Menschen. Dennoch: Die Staatssicherheit warf immer ein Auge auf ihn.
1954, Helmut Wannewitz war damals 20 Jahre alt und hatte einen anständigen handwerklichen Beruf erlernt, suchte die DDR junge Lehrer. Er begeisterte sich dafür und nahm an der Pädagogischen Fachschule in Leipzig ein vierjähriges Pädagogik-Studium in den Fächern der Polytechnik auf. „Das war für mich nicht einfach, nach jahrelanger praktischer Arbeit so lange wieder auf der Schulbank zu sitzen. Aber bereut habe ich es nie“, sagt Wannewitz noch heute mit großem Stolz. Nach Studienabschluss im Jahr 1958 hatte der heute 87-Jährige das Glück, in Stendal, wo er im gleichen Jahr heiratete, an der Goetheschule, einer polytechnischen Oberschule mit damals weit mehr als 1 000 Schülern, eingesetzt zu werden. Als Lehrer der Oberstufe mit den Fächern Physik, Einführung in die Sozialistische Produktion (ESP) und Technisches Zeichnen (TZ) in den Klassen 7 bis 10. „Ich kann mich noch gut an den damaligen Direktor, Herbert Ruhnau, erinnern, der mich in den ersten Jahren als junger Lehrer mit Rat und Tat unterstützte. Ruhnau war unter den Schülern eine unglaubliche Respektperson. So mancher Schüler hat sich damals aus Disziplinlosigkeit von ihm eine Ohrfeige eingefangen. Die Eltern wurden in die Schule einbestellt. Und dann war Ruhe im Salon.“
Dass der Lehrer Wannewitz Akkordeon spielte, sollte sich für die außerunterrichtliche Arbeit an der Goetheschule im besonderen Sinn gleich mehrfach auszahlen. Helmut Wannewitz etablierte hier nicht nur einen Chor, sondern auch den ersten Schulspielmannszug in der Altmark-Metropole Stendal, der nun auch bei vielen städtischen Gelegenheiten aufspielte. Und: Die jungen Musiker durften zusammen mit Helmut Wannewitz im Januar 1963 sogar in die DDR-Hauptstadt Berlin reisen und den Delegierten und Gästen des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) ihre musikalische Aufwartung machen.
Im September 1967 folgte Helmut Wannewitz dem Ruf an die Wilhelm-Pieck-Oberschule. Das Gebäude im Norden der Kreisstadt war damals der erste Schulneubau, der in Stendal nach Gründung der DDR 1949 eingeweiht wurde. Nicht nur ein junges Lehrer-Kollegium um Schuldirektor Wolfgang Wagner stand in den Startlöchern, sondern auch die Kinder und Jugendlichen, die inzwischen mit ihren Eltern in das erste Neubauviertel Stendals gezogen waren, freuten sich auf das Lernen in der nunmehr modernsten Schule in Stendal. Viele der damaligen Werktätigen des VEB Geologische Erkundung, ein Großbetrieb in der Kreisstadt, wohnten in Stendals Norden. Und so kam es, dass die Geologische Erkundung von Beginn an Patenbetrieb der Schule Nord wurde, die sodann auch den Namen des ersten und einzigen Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Wilhelm Pieck, verliehen bekam. Zur Namensgebung reiste extra aus Berlin die Tochter Wilhelm Piecks, Elly Winter, nach Stendal, mit der die Schule lange Jahre in persönlichem Kontakt war.
Auch an der polytechnischen Oberschule „Wilhelm Pieck“ in Stendal unterrichtete Helmut Wannewitz hauptsächlich Physik, ESP und TZ. In seiner fast 40-jährigen Pädagogenlaufbahn erteilte er aber auch Unterricht in Deutscher Sprache und Geographie.
Der polytechnische Unterricht, der in der DDR schon 1959 eingeführt wurde, sollte nach dem Willen der DDR-Regierung in der Schule eine sozialistische Persönlichkeit zu formen, die bereits im Kindesalter mit den Prinzipien der Arbeit und der Lebensweise der arbeitenden Bevölkerung vertraut werden sollte. „Achtung vor der Arbeit“ war unter anderem eines der Hauptprinzipien zur Ausformung der sozialistischen Persönlichkeit, welche im Bewusstsein über sich selbst und die Gemeinschaft handelt. So war es folgerichtig, dass im VEB Geologische Erkundung Stendal ein „Polytechnisches Zentrum“ entstand, in dem die Schüler der Patenschule in den Klassen 7 bis 10 ihren theoretischen und praktischen polytechnischen Unterricht erhielten. Später kamen mit der Stendaler POS „Otto Grotewohl“ und der POS „Hermann Matern“ zwei weitere Schulen dazu, die im polytechnischen Zentrum der Geologischen Erkundung ihre Schüler beschulen ließen. Helmut Wannewitz ist hier damals zum leitenden Lehrer ernannt worden, der bis 1990 die pädagogische Arbeit im polytechnischen Zentrum des VEB Geologische Erkundung Stendal koordinierte und fachlich Vorgesetzter der dort unterrichtenden Lehrer aus drei Stendaler Schulen war. „Natürlich lief auch die Arbeit dort nicht immer ganz reibungslos. Ich erinnere mich an manchen Neid von Lehrmeistern, die im praktischen Unterricht tätig waren. Für uns Lehrer galten die Stundenpläne der jeweiligen Schule, für die Lehrmeister die täglichen Arbeitszeiten des Betriebes. Da gab es so einige Diskussionen.“ Trotzdem lässt Helmut Wannewitz nichts kommen auf den polytechnischen Unterricht und das gemeinsame Miteinander zwischen den Schulen und dem Betrieb. „Was wir hier im Polytechnischen Zentrum des VEB Geologische Erkundung Stendal allein an Technik in der praktischen Arbeit und an Unterrichtsausstattung in der Theorie vorhielten, war wohl einmalig im ganzen damaligen Kreis Stendal und vorbildlich in der DDR. Die Verzahnung von Theorie und Praxis, das Heranführen unserer Schüler an die Produktion, das war keineswegs ein sozialistisch geprägtes Schlagwort. Das war Handwerk, das war Automatisierung, das war Cad/Cam, das waren die Anfänge des Computerzeitalters. Das war im besten Sinne die berufspraktische Vorbereitung auf das Leben“, blickt Wannewitz mit Stolz zurück. Und er hält es bis heute nicht für normal, dass die Polytechnik nach dem Ende der DDR sang- und klanglos krachen ging und viele damalige hochmoderne Maschinen auf dem Schrott landeten. Dass man sich mittlerweile wieder auf die polytechnischen Werte in der Schule besinnt, hält Wannewitz für äußerst wichtig bei der Verwirklichung des Bildungs- und Erziehungsauftrages der Schule.
Nach der Wiedervereinigung war Helmut Wannewitz bis zum Eintritt in die Rente im Februar 1997 zwar noch im Schuldienst tätig, jedoch einige Zeit krank. Er unterrichtete in der verbliebenen Zeit vor allem die Unterrichtsfächer Physik, Informatik, aber auch Deutsch und Geographie – und kehrte sogar als so genannter „Springer-Lehrer“ für einige Wochenstunden an die Stendaler Goethe-Schule zurück.
Was bleibt nach fast 40 Jahren im Dienst für die sozialistische Schule, für den Frieden und in der deutschen Einheit? Ein Mann, der stolz auf seinen Beruf war, ist und bleibt, der sich um die Bildung und Erziehung der Jugend verdient gemacht hat. Er blieb im aktiven Schuldienst immer Lehrer, wurde nicht befördert, auch nicht als „Verdienter Lehrer des Volkes“ ausgezeichnet. Und doch war er Teil des Kollegiums der Wilhelm-Pieck-Oberschule Stendal, das Ende der 70er Jahre als Kollektivauszeichnung mit einer der höchsten Orden der DDR, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold, geehrt wurde. Dass Helmut Wannewitz daran keinen unbedeutenden Anteil hatte, erwähnt er im Nebensatz. Von 1967 bis 1989 war Wannewitz an der Wilhelm-Pieck-Schule der Verantwortliche für die Jugendweihe. Jahrelang schrieb er zu Hause für jeden Jugendweihling die Urkunde und organisierte die alljährliche mehrtätige Fahrt der Jugendlichen jeder 8. Klasse nach Weimar-Buchenwald. Auch in die nahegelegene Gedenkstätte Isenschnippe bei Gardelegen führten die Exkursionen der jungen Erwachsenen. Dass Helmut Wannewitz vom Sozialismus überzeugt war und dies dem Nachwuchs gern übermittelte, war für ihn nicht nur Pflicht, sondern auch Kür. Selbst als er 1986/87 mit der SED in Konflikt geriet und in der SED-Kreisleitung Stendal bei einer Aussprache ausrief: „Honecker ist doch nicht der liebe Gott“, behielt er den Jugendweihe-Posten. Er sagt heute: „Die waren froh, dass einer das machte.“
Auch als langjähriger Reiseleiter eckte Helmut Wannewitz an. Er betreute im Nebenberuf für das DDR-Reisebüro seit 1958 Reisegruppen in das In- und Ausland. Er lernte die DDR und die sozialistischen Länder dabei richtig kennen. Bei einer Inlandreise im Jahr 1988, die auch über Brandenburg an der Havel führte, berichtete er der Reisegruppe: „In diesem Gefängnis sitzen die schweren Jung‘s. Auch Erich Honecker hat hier gesessen.“ Die Reisegruppe bestand aus Mitarbeitern des damaligen Rates des Kreises Osterburg, die diese Äußerung umgehend an die Stasi meldete. In der Folge wurde Wannewitz seinen Reiseleiter-Job los. Was der Staatssicherheit aber offenbar entging: Helmut Wannewitz und seine Frau Ilse hatten während der mehrjährigen Aus-einandersetzungen mit dem Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung Stendal, Günter Anton, und seinen Kleingeistern einen direkten Draht nach ganz oben aufgebaut. „Volksbildungsministerin Margot Honecker versprach, uns zu helfen, als sich meine Frau 1989 an sie wandte. Und ich durfte auf Geheiß von Erich Honecker im Juni 1989 mit meinem Auto nach Wolfsburg reisen, um meine Schwiegermutter abzuholen, da mein Schwiegervater dort zuvor verstorben war.“