„Europäische Identität“? „Wir-Gefühl“ und Liebe zur Nation sind keine Gegensätze
Viel ist in diesen Pandemie-Zeiten von Europäischer Solidarität die Rede. Woraus sie aber ihre innere Rechtfertigung bezieht, wird selten thematisiert. Tragen wir füreinander Verantwortung, weil wir „Europäer“ sind? Oder sind wir nicht in erster Linie Portugiesen, Iren, Österreicher, Westfalen, Magdeburger?
Fahne – Hymne – Werte – Europawahl
Die Integration Europas ist 1957 mit der Vision an den Start gegangen, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“. Ihre historische Initiative sollte nach der Vorstellung der Gründer also nicht auf einen bloßen markt- und wirtschaftspolitischen Zweckverband hinaus laufen.
Also hat man sich einiges einfallen lassen, um ein grenzübergreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl zu begründen oder zu intensivieren. Zu nennen sind etwa die „Unionsbürgerschaft“ – wobei es sich um ein staatsrechtlich irrelavanters Etikett handelt; Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedslandes der Europäischen Union besitzt.
• Der „Europapass“. Auch hier geht es lediglich um das EU-einheitliche burgunderrote Passformular; ausgestellt wird der Pass vom jeweiligen EU-Mitgliedsstaat.
• der „Europäische Führerschein“,
• der Europäische Bürgerbeauftragte
• oder – nicht zu vergessen – die blaue, goldbesternte Fahne und unsere Europahymne aus der Feder des deutschen Komponisten Ludwig van Beethoven.
• Weiterhin verleihen die Staats- und Regierungschefs der EU alljährlich den Titel „Kulturhauptstadt Europas“. Die Initiative will „den Reichtum der Kulturen in Europa hervorheben und die kulturellen Eigenschaften würdigen, die den Kontinent verbinden und die bei uns Europäern das Gefühl stärken, einem gemeinsamen Kulturkreis anzugehören“ (zitiert nach Creative Europe). Den Anfang machte 1985 die Hauptstadt des Landes, das als „Wiege“ der europäischen Kultur gilt: Athen. Deutschland war bisher zweimal dabei, mit Weimar 1999 und Essen plus Ruhrgebiet 2010. Für 2025 fiel die Wahl auf Chemnitz.
• Seit 2009 kommt zudem der Grundrechte-Charta der EU volle Rechtsverbindlichkeit zu. Sie gewährleistet zwar Prinzipien und Werte, über die wir Europäer über alle Grenzen hinweg einig sind. Die EU bezeichnet sich daher gerne als „Werte-Union“. Diese „europäischen Werte“ aber sind von universeller Autorität und daher als identitätsstiftendes Abgrenzungsmerkmal nur bedingt geeignet.
• Schließlich wählen wir in der EU alle gemeinsam unser Europäisches Parlament. Allerdings wählt jedes Land seine nationalen Kandidaten nach eigenen Wahlgesetzen. So übt diese Europawahl auf uns „Unionsbürger“ seit jeher eine eher begrenzte Faszination aus. Aber die Tendenz lässt hoffen; an den Wahlen im Mai 2019 beteiligen sich EU-weit 50,6 Prozent der Wahlberechtigten – gegenüber 43,1 Prozent bei den Wahlen 2014.
• In einem Punkt jedenfalls dürfen wir Europäer uns ohne Frage und voller Stolz mit dem bisher Erreichten identifizierten. 2012 wurde die Aufbauarbeit nach dem Grauen zweier Weltkriege mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt; er galt uns allen – in allen Ländern der Europäischen Union.
Lässt sich ein „europäisches Gefühl“ oktroyieren?
Der Begriff „Europäische Identität“ taucht in den Europäischen Verträgen nicht auf. Im Gegenteil verpflichtet Artikel 4 Abs. 2 EU-Vertrag die Union, „die jeweilige nationale Identität“ der Mitgliedstaaten zu achten.
Wie wichtig das ist, zeigte besonders drastisch der – gescheiterte – Versuch, mit einem „Verfassungsvertrag“ eine gewisse Staatsähnlichkeit der EU zu demonstrieren. Ansätze eines „von oben oktroyierten Zusammenfügens“ sind höchst vorsichtig zu dosieren. Auch der mitunter von überzeugten Föderalisten voller Idealismus befürwortete Weg, zwanghaft an einem Rückbau der nationalen Identitäten zu arbeiten, erwies sich als eher kontraproduktiv. Denn, wo finden sich außerhalb unseres mit seiner Identität nachhaltig hadernden Landes europäische Nachbarn, die nicht stolz sind auf ihr Land und die – anders als wir – mit Freude und Überzeugung ihre Nationalhymne singen?
Die Fakten
1. Europagefühle hin, Nation her: Heute präsentiert sich die Zusammenarbeit unserer 27 EU-Staaten in einer Intensität, die über die Beliebigkeit und jederzeitige Rückrufbarkeit des normalen, völkerrechtlich geprägten internationalen Verkehrs weit hinausgeht.
Kurzum: Die aktuelle EU zeigt in ihren Institutionen, dem Rechtsinstrumentarium oder auch in der Wahl der Tätigkeitsbereiche eine nicht zu leugnende Staatsähnlichkeit.
Wirtschaftliches und politisches Zusammenwirken der Mitgliedsländer haben eine Verflechtung erreicht, in der der einzelne Nationalstaat in vielen wichtigen Bereichen Entscheidungen nicht mehr für sich treffen kann, sondern in gegenseitiger Abhängigkeit und Solidarität mit den Partnerländern verbunden ist. Europapolitik ist heute zu einem guten Teil Innenpolitik.
2. Dies alles – man darf es ruhig einmal sagen – ist nicht etwa von Begeisterungsstürmen der Bevölkerung getragen oder in Plebisziten legitimiert worden. Wir Europäer besitzen zwar ein deutliches Bewusstsein unserer Identität und Besonderheit; dieses Bewusstsein aber ist zumeist tief verwurzelt im kulturellen und politischen Selbstverständnis einer bestimmten Nation.
Tatsächlich prägt keine andere politische Institution bis heute die Lebenschancen der Menschen so nachhaltig wie der moderne Nationalstaat. Auf seiner Ebene sind die zentralen Dimensionen organisierter Staatlichkeit angesiedelt. So insbesondere das Gewalt- oder das Steuermonopol, die Sorge für Wohlstand und sozialen Ausgleich oder die Garantie der Herrschaft des Rechts. Große öffentliche Debatten finden nach wie vor in nationalem Rahmen statt. Ebenso finden die wichtigsten Wahlen im nationalstaatlichen Rahmen bis heute ihr natürliches zuhause. Auch – vielleicht gerade – im Zeitalter globaler Marktbeziehungen scheint der demokratische Nationalstaat im Denken der Menschen nach wie vor das glaubwürdigste Fundament zu sein, auf dem sich Demokratie relativ überzeugend organisieren lässt.
Nation und Union – ein unüberbrückbarer Gegensatz?
Es handelt sich um einen weit verbreiteten Irrglauben, man müsse die Union Europas als krass unvereinbaren Gegenpol zur Nation begreifen. Das Postulat eines unversöhnlichen Antagonismus zwischen Integration und nationaler Identität scheint unausrottbar; es wird mitunter gerade von Europabegeisterten kultiviert – mit oft kontraproduktiven Folgen. Hören wir dazu einen zutiefst von der Notwendigkeit einer Integration Europas überzeugten „Gründungsvater“, Konrad Adenauer, der schon 1953 in großer Klarheit feststellte: „...manche scheinen sich das so vorzustellen, als hätten wir hier einen Schmelztiegel, aus dem eine graue und einförmige Masse hervorgehen müsste; und das sei dann Europa. Aber Europa soll gar nicht gleichgeschaltet werden. Sein größter Reiz und Reichtum liegt in der Mannigfaltigkeit. Das Gemeinsame in der Mannigfaltigkeit herauszuarbeiten, das Verschiedene zu einer Einheit zu verbinden, das ist die Aufgabe. Das ist ja gerade das Gesunde an einem richtig verstandenen Föderalismus, dass es weiter Franzosen, Italiener, Deutsche, Holländer, Belgier und Luxemburger geben wird in der größeren europäischen Heimat. Hier entsteht etwas Neues, ohne dass das Alte vernichtet wird“.
Das Zauberwort „Vielfalt“
Der französische Soziologe Edgar Morin hat schon vor Jahren die Sorge geäußert, dass unsere Kulturen heute zu den bedrohten Kulturen der Welt zählen. Es überrasche ihn kaum, dass wir eine wachsende Sensibilität für die unvergleichliche kulturelle Vielfalt Europas beobachten. „Man hat verstanden“, so Morin, „dass diese Vielfalt das Vermögen Europas darstellt“.
Und genau hier kommt die Grenze ins Spiel. Sie ist eine höchst ambivalente Veranstaltung. Sicherlich ist sie nicht immer segensreich, aber auch nicht immer nichtswürdig. Man könnte sie in gewisser Weise als Garant der Vielfalt betrachten. Vielleicht hatte Oswald Spengler recht, wenn er schon 1924 warnte: „Indem die Kulturen sich vermischen, sind sie dem Untergang preisgegeben“. Nur in ihren Grenzen entwickeln sich Kulturkreise, Sprachen, Traditionen, Lebensweisen. Und: die Grenze ist kein Teufelswerk, sondern eine uralte Erfindung der Menschheit, seit wir von Jägern und Sammlern zu Ackerbauern und Viehzüchtern wurden.
Auch ein – erwünschter – Wegfall der Grenzen beseitigt nicht das dem Menschen immanente Bedürfnis nach kulturgeschichtlicher Identität. Relativ spät hat auch die EU etwas in den Vertrag geschrieben, was dieser uralten europäischen Taktung Rechnung zu tragen versucht. Im sog. „Kultur-Artikel“ 151, Absatz 4 heißt es seit 1999: „Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen.“
Eine Lanze für das „eigentliche Europa“
Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels des Jahres 1956, Reinhold Schneider, schrieb damals: „Europa in seiner eigentlichen Gestalt ist ein leidenschaftlicher Protest gegen jegliche Vereinfachung, jede plausible Lösung, jeglichen Versuch, Menschen und Völker auf einen Nenner zu bringen. Und eben dieser Protest, dieses glühende Bekenntnis zur geschichtlichen Individualität ist europäische Lebensform, nicht als Verneinung, sondern als Leistung, als Gestaltung in Geschichte und Denken und Kunst.“
Sein Fazit: „Wer seine Tradition nicht behauptet, hat dem andern wenig zu bringen. Und nicht die Vermischung, sondern der Zusammenklang der Eigenarten allein verdient den Namen Europa.“
In der Vielfalt also liegt unser „Wir-Gefühl“ – ein Gefühl, das mit einem Bekenntnis zu unseren Nationen gerade nicht im Widerspruch steht. Von dem deutschen Historiker Hermann Heimpel stammt das Wort: „Dass es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa“.
Kurzum: nationale Identitäten und ein Bekenntnis zu einem geeinten Europa bilden kein „Entweder – Oder“; sie bilden ein „Sowohl – als auch“. Beides ist wertvoll – und für unsere Integration unverzichtbar. Vielleicht sollten wir mit dieser Erkenntnis viel entspannter umgehen?