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"Milliarden gegen Menschen" - Fünf Jahre EU-Türkei-Abkommen

Politisch betrachtet und analysiert von Dr. Hans Jörg Schrötter

Man schrieb das Jahr 2015. Millionen von Migranten hatten sich Europa zum Ziel gewählt. Zum überwiegenden Teil handelte es sich um Flüchtlinge, die in der Türkei bereits vor Verfolgung und Krieg sicher waren. Viele stammten aus Syrien, aber auch aus Afghanistan, Marokko oder dem Irak. Hunderte waren es Tag für Tag, die in Schlauchbooten an den Küsten der griechischen Inseln landeten. Von dort aus zogen sie in Richtung Balkan – und fluteten am Ende unregistriert über die offen stehenden deutschen Grenzen. Es begann im September, und es waren Tausende – täglich. Bilder von nicht endenden Menschengruppen, die über deutsche Autobahnen liefen, sind bis heute gegenwärtig. Das Wort von der „Völkerwanderung“ machte die Runde.

Der deutsche Bundesinnenminster reagierte. Er beorderte 21 Divisionen der Bundespolizei an die bayerischen Grenzen, fest entschlossen, die staatliche Kontrolle zurückzugewinnen. Das war am 13. September 2015. Im letzten Moment aber fiel ihm die Bundeskanzlerin in den Arm, stoppte die Aktion. Die Busse, die unsere Beamten an die Grenzen transportiert hatten, mussten nun Migranten von dort ins Inland bringen – was auf Menschen, die in ihren Heimatländern verblieben waren, eine ungeheuere Sogwirkung entfaltete. Immer neue Menschenketten zogen über die die so genannte Balkanroute Richtung Norden. Ungehindert gelangten sie hinein nach Deutschland. Im Oktober zählte allein München an einem einzigen Wochenende 35 000 Neuankömmlinge. So blieb es auch im November und Dezember.

Das tapfere Nord-Mazedonien ging voran, schloss seine Grenzen, stoppte die immer unkontrollierbarer anwachsenden Wanderungströme. Ungarn und Österreich folgten diesem Schritt. Die Aufforderung des österreichischen Bundeskanzlers Werner Fayman, nun auch die deutschen Grenzen strikter zu kontrollieren, lehnte die deutsche Bundeskanzerlin kategorisch ab. Stattdessen geißelte sie das Bauen von Zäunen in den Nachbarländern.
Verschwörungstheorien kamen auf; will diese Kanzlerin, gesteuert von fremden Mächten, Deutschland zerstören, seine Bevölkerung zersetzen? Aber auch für seriöse Stimmen waren die Maßstäbe des Hinnehmbaren überschritten. In ihrer eigenen Partei sprach man von „Kontrollverlust“; namhafte Verfassungsrechtler sahen in dem bewussten monatelangen Unterlassen, unser Staatsgebiet zu schützen, eine Änderung der Einwanderungsregeln am Parlament vorbei. Man sprach von einem Bruch unserer Verfassung. Und die Bevölkerung? Wie bewertete sie diesen Einwanderungs-Irrsinn? Zuerst bekamen ihn unsere Frauen und Mädchen zu spüren. In der Silvesternacht wurden sie in zahlreichen deutschen Städten, wie Hamburg, Frankfurt, Stuttgart oder Köln zu Tausenden von ganzen Gruppen junger Muslime umstellt, bedrängt, begrapscht, sexuell belästigt und beklaut. Medien und Politik versuchten zunächst, die unfasslichen Ereignisse zu verschweigen, dann herunterzuspielen und schließlich als „Kölner Silvesternacht“ zu singularisieren und zu verharmlosen.

Deutschland in der EU isoliert
Bundeskanzlerin Angela Merkel traf mit ihrer beharrlichen Politik der weit offenstehenden Grenzen nicht nur im Inland auf zunehmende Fassungslosigkeit. Der tschechische Präsident Milos Zeman etwa bezeichnete ihre Haltung als „absurd“. Sie aber versteifte sich darauf, dass nicht Grenzschließungen die Flüchtlingskrise lösen würden, sondern ein Abkommen mit der Türkei – womit sie Deutschland in der EU isolierte wie kein anderer Kanzler vor ihr. Noch nie hatte Deutschland eine derart unabgestimmte europäische Politik betrieben. In Brüssel empfand man die Haltung der deutschen Kanzlerin, die zudem von allen anderen Mitgliedstaaten eine ähnliche Bereitschaft zur unbegrenzten Aufnahme Geflüchteter erwartete, als „anmaßend“ - genauer: als „den Versuch, die Kosten einer gesinnungsethischen Verirrung“ auf die Schultern der Gemeinschaft zu verteilen. (zitiert nach DER SPIEGEL 11/2016, S. 22 f). Victor Orban warf ihr „moralischen Imperialismus“ vor.

Das Abkommen
Angela Merkel erreichte, dass der türkische Premieminister Ahmed Davutoglu sich Anfang März 2016 mit ihr in Brüssel traf. Es war der Beginn einer Abspache, die als EU-Türkei Abkommen in die Analen der EU eingehen sollte. Erstmals sagten die Türken zu, alle Flüchtlinge, die es über die Ägäis schaffen und die keinen Anspruch auf Asyl haben, wieder zurückzunehmen.

Deutschlands Isolation ließ sich auf diesem Weg nicht aus der Welt schaffen. Zahlreiche EU-Partner bewerteten Grenzschießungen auf der Balkanroute als handfeste Politik, die Türkeipolitik der deutschan Kanzlerin dagegen als „politische Traumtänzerei“ (DER SPEGEL aaO., S. 24); sie wende sich mit großer moralischer Geste gegen eine Politik der Grenzbefestigungen, mache sich aber gleichzeitig abhängig von einer türkischen Regierung, die das Land Stück für Stück zu einer Autokratie umbaue (DER SPIEGEL aaO).

Am 18. März 2016 einigten sich die EU und die Türkei auf ein Abkommen, das die ungebremste Migration über die Ägäis stoppen sollte. Gemäß den Absprachen soll die Türkei verhindern, dass Flüchtlinge mithilfe von Schleppern auf die griechischen Inseln fahren; sie verstärkt also ihren Grenzschutz. Dafür stellt die EU bis 2018 sechs Milliarden Euro zur Verbesserung der Lebensumstände der Flüchtlinge in der Türkei bereit. Flüchtlinge, die keinen Anspruch auf Asyl haben, sollen von den griechischen Inseln zurück in die Türkei gebracht werden: Für jeden dieser in die Türkei abgeschobenen Flüchtlinge verpflichten sich die EU-Länder im Gegenzug, einen syrischen Flüchtling aus der Türkei direkt aufzunehmen. Darüber hinaus wurde der türkischen Regierung in Aussicht gestellt, dass schneller über die Abschaffung des Visazwangs für türkische Bürger und den EU-Beitritt verhandelt wird.

Eine Bilanz des Scheiterns
Ist die Idee „Milliarden gegen Menschen“ aufgegangen? Sie ist, kurz gesagt, gescheitert. Rund 6,5 Milliarden Euro hat die Türkei von der EU erhalten. Dennoch sind zwischen 2016 und 2019 über 130 000 Geflüchtete von der Türkei aus nach Griechenland gelangt – allen Vertragsregeln zum Trotz. Zwar wurden in dieser Zeit rund 3 000 Syrer, deren Asylantrag abgelehnt worden war, von der Türkei zurückgenommen. Dann aber musste Präsident Erdogan von seinem militärischen Vorgehen in Syrien ablenken. Nachdem er in der zweiten Jahreshälfte 2019 wiederholt gedroht hatte, die Rücknahme von Flüchtlingen zu stoppen und die verstärkten Grenzkontrollen wieder einzustellen, hat er diese Ankündigungen Ende Februar 2020 in die Tat umgesetzt. Polizei, Küstenwache und Grenzschutz erhielten am 27. Februar 2020 die Anweisung, syrische Flüchtlinge ungehindert passieren zu lassen. Er verstieß also gegen die Kernabsprache des Abkommens und forderte zudem die in der Türkei lebenden Flüchtlinge auf, sich auf den Weg nach Europa zu machen.

Zehntausende in der Türkei prinzipiell vor dem syrischen Bürgerkrieg sichere Flüchtlinge strömten daraufhin umgehend zur türkisch-griechischen Grenze, um als Migranten in die EU zu gelangen. Die griechische Regierung schloss ihre Grenze zur Türkei und wehrte sich gegen den Ansturm, der seitens der türkischen Regierung nicht nur gebilligt, sondern gezielt gefördert wurde. Man fuhr die Migranten organisiert mit Bussen an die griechischen Grenzbefestigungen. Eine gigantische neue Einwanderungswelle nach Europa drohte.

Präsident Erdogan spielte damit das letzte Druckmittel, den letzten Joker aus, den er gegenüber der EU in der Hand hatte. Umso größer war sein Erstaunen darüber, mit welcher Entschlossenheit die Griechen im Februar 2020 ihre Grenzen zur Türkei verriegelten und verteidigten. Bilder von Angriffswellen tausender Flüchtlinge auf die griechischen Befestigungen flimmerten über die Bildschirme. Die griechische Polizei setzte Wasserwerfer ein. Die Situation war über Wochen in hohem Maße explosiv.

Die 26 EU-Partnerländer unterstützten Griechenland zwar verbal und entsandten sogar einige Beamten der Grenzagentur „Frontex“, die aber keinerlei exekutive Befugnisse haben und allenfalls hinter der Grenze eine eher symbolische Hilfestellung geben durften. Tatsächlich war es in erster Linie der Willensstärke der Griechen zu verdanken, dass Europa diesem massiven Erpressungsversuch der türkischen Seite erfolgreich getrotzt hat.

Der europäische „Sog-Effekt“ als Kern des Problems
So wurde der EU eine weitere Lektion zum Thema „Vertragstreue der türkischen Regierung“ erteilt. Dennoch hält die EU aktuell weiterhin an dem Deal fest. Er liefert unverändert die Basis dafür, die auf den ägäischen Inseln anlandenden Migranten dort auch für unbestimmte Zeit unterzubringen, da die Verpflichtung der Türkei zu ihrer Rücknahme aus Sicht der EU vertragsrechtlich fortbesteht. Aber das Klima in Griechenland gegenüber den Geflüchteten hat sich grundlegend geändert. Man lässt sie wohl auch deshalb nicht weiter wandern, da es absehbar wäre, dass sich die Lager in kürzester Zeit wieder füllen würden, wenn sich zeigte, dass die oft von Schleppern organisierte Fahrt nach Griechenland eben doch erfolgreich ist. Es ist der Ansatz, die Magnetwirkung Europas auf Geflüchtete aus aller Welt so gut es geht zu begrenzen.


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