Das Thema „Europa“ war im Bundestagswahlkampf eine Fehlanzeige
Aus europäischer Sicht war der zurückliegende Wahlkampf bemerkenswert – nicht etwa wegen der Aspeke, die angesprochen wurden, sondern im Hinblick auf all das, was nicht angesprochen wurde. Genauer: Europäische Themen fanden im Wahlkampf 2021 so gut wie nicht statt. Dabei wissen wir Wahberechtigte sehr genau um die zahlreichen auf europäischer Ebene ungelösten Fragen.
Setzen wir den Weg in die „Transferunion“ fort?
Viele werden sich an die denkwürdige Sitzung des Europäischen Rates am 21. Juli 2020 erinnern – nicht nur als der längste Sitzungsmarathon in der Geschichte der EU, sondern auch als Türöffner für etwas, was bis dahin undenkbar und geradazu verpöhnt war: als Schritt in eine „Transfer-Union“. Man einigte sich bekanntlich auf einen Corona-Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro. Hauptprofiteur – mit 80 Milliarden Euro an nicht zurückzuzahlenden Zuschüssen und 127 Milliarden Euro an Krediten – ist eindeutig Italien, gefolgt von Spanien, dem 72 Milliarden an Zuschüssen und 68 Milliarden Euro an Krediten gewährt werden. Frankreich erwartet rund 40 Milliarden Euro.
Nur, wer steht für diese Summen gerade? Gut, die Mitgliedstaaten gaben zunächst nur Garantien ab, dass sie eines Tages für diese Anleihen aufkommen werden – aber nicht etwa die jeweiligen Profiteure, sondern alle gemeinsam! Der Anteil, für den Deutschland voraussichtlich zur Kasse gebeten wird, beläuft sich auf stolze 200 Milliarden Euro. Zurückzahlen soll die EU die 750 Milliarden Euro Schulden bis Ende 2058.
Die berechtigte Frage wurde gestellt: Ist damit die „Fiskalunion“ Wirklichkeit? Richtig ist, dass die gemeinsame Verschuldung die EU-Kommission zu einem entscheidenden finanzpolitischen Akteur in der Union werden lässt. Erstmals erhält die EU-Kommission – dies ist wesentlich – die Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel. Es ist also keinesfalls abwegig, wenn Staatspräsident Emmanuel Macron am 21. Juli 2020 frohlockte, die EU-Behörde avanciere nun zum „europäischen Schatzamt“, und seine Forderung nach einem „europäischen Finanzminister“ sei ein Stück weit umgesetzt worden. In jedem Fall aber hat Macron recht, wenn er den Systemwechsel der gemeinsamen Schuldenaufnahme „historisch“ nennt und konstatiert, für die EU habe eine neue Etappe „echter Transferzahlungen“ und neuer Eigenmittel begonnen.
Berthold Kohler bewertete in der FAZ vom 22. Juli 2020 den Brüsseler Kompromiss dagegen als „mit einer präzedenzlosen Verschuldung erkaufte Kraftanstrengung“, um den Absturz in eine wirtschaftliche und soziale Depression zu verhindern. Inwieweit das Programm mit der Nichtbeistandsklausel des Artikel 125 Abs. 2 AEUV in Einklang steht, wonach kein Mitgliedstaat für die Schulden eines anderen EU-Landes haften darf, ist eine offene Frage. Rechtlich dürfte eine solche umfangreiche Ausgabe von Anleihen durch die EU allenfalls als Ausnahme in einem Notfall zulässig sein. Im Wahlkampf war kein Wort darüber zu hören, wie sich eine neue Bundesregierung hier positioneren würde.
Kurzum – das Ringen um diesen sogenannten. „NextGenerationFonds“ hat im Ergebnis die Tür zu einer „Schuldenunion“ aufgestoßen, gegen die sich Deutschland im Rahmen der Diskussion um sogenannten „Eurobonds“ lange gewehrt hatte. Sollen, so fragte man vor 10 Jahren in der Staatsschuldenkrise, hochverschuldete Euro-Staaten, die sich seither am Kapitalmarkt nur zu hohen Kosten verschulden können, dadurch entlastet werden, dass nun alle Euro-Staaten, auch die weniger verschuldeten wie etwa Deutschland, für die Rückzahung von Staatsanleihen gemeinsam haften? Das Reizthema „Eurobonds“ ist ungelöst. Würde eine neue Bundesregierung den Weg gemeinsamer Schulden, von einigen Südländern wie Italien nahezu flehend begehrt, von der deutschen Kanzlerin aber bislang konsequent verhindert, weiter gehen?
Die Vision von einer „Verteidigungsunion“
Insbesondere das Desaster des Westens in Afghanistan hätte im Wahlkampf dringend eine unmissverständliche Stellungnahme der führenden Politiker und Politikerinnen zu einer künftigen europäischen Verteidigungsstrategie erfordert. Aber auch zu diesem Kapitel herrschte Unverbindlichkeit vor.
Die Europäische Integration ist von ihrem Grundgedanken her ein Friedensprojekt – und zwar im Innenverhältnis. In den zurückliegenden Jahrzehnten sah sich das Einigungswerk aber von äußeren Krisenherden umringt – und musste sich Gedanken machen, wie es sich verteidigen und für mehr Stabilität in seiner Nachbarschaft sorgen kann. Zu beobachen ist jedenfalls eine zunehmende Fokkussierung der aktuellen EU-Zukunftsdebatten auf die Themen Sicherheit und Verteidigung. Hier kulminiert die erkennbare Notwendigkeit, zusammenzuhalten und nach vorne zu denken.
So resümierte Sabine Weyand, EU-Kommission, am 19. Februar 2019: „Wir haben in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht auf dem Weg zu einer Verteidigungsunion. Aber das alles steckt noch in den Kinderschuhen.“
Die „Verteidiungungsunion“, auch von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer jüngsten Rede zur Lage der Union beschworen, ist also weniger ein konkret zu fassendes neues Projekt als vielmehr eine einen Trend beschreibende Zukunftvision, die derzeit eher wie eine Dauerbaustelle anmutet: Zwar gibt es mit der „Permanant Structured Cooperation“, (PESCO), einen Rahmen für eine engere Zusammenarbeit der EU im Bereich von Sicherheit und Verteidigung; die darin anvisierten Projekte werden aber erst in 10 bis 15 Jahren umgesetzt sein.
Eine „Europäische Interventionsinitiative“, initiiert vom französischen Präsidenten Macron, soll zu einer gemeinsamen strategischen Kultur führen. Am 25. Juni 2018 unterzeichneten neun Europäische Staaten (auch Großbritannien und Dänemark) hierzu eine Absichtserkärung.
Im November 2018 forderte Macron eine „richtige europäische Armee“. Im Rahmen einer „strategischen Autonomie“ Europas solle die Abhängigkeit von den USA verringert werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel kommentierte den Vorstoß in der ihr eigenen wild entschlossenen Art mit einem „Ja – aber“; eine Europäische Armee sei eine Vision, um in der NATO gemeinsam aufzutreten.
Trotz aller Fortschritte der letzten Jahrzehnte bleibt die Gemeinsame Sicherheitsarchitektur der 27 EU-Staaten ein mühevolles Langzeitprojekt – ihr Fortgang hängt entscheidend von den neuen Regierungen in Berlin und Paris ab.
Migration und Flucht – ein unlösbares Langzeit-Problem
Auch ein in besonderem Maße ungelöstes Thema wurde im Wahlkampf – wie es schien – geradezu systematisch unter der Decke gehalten. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat es in ihrer jüngsten Rede zur Lage der Union sehr dezent und ziemlich weit am Ende ihrer Ausführungen wie folgt umschrieben: „Sehen Sie sich an, was an unseren Grenzen zu Belarus geschieht. Das Regime in Minsk hat Menschen instrumentalisiert. Es hat Menschen in Flugzeuge gesetzt und sie an Europas Grenze abgesetzt. Das kann niemals geduldet werden. Und die rasche Reaktion Europas lässt daran keinen Zweifel. Ich versichere Ihnen, wir stehen weiterhin an der Seite von Litauen, Lettland und Polen.“
Rasche Reaktion? Welche die Präsidentin meint, bleibt unklar. Ebenso nebulös bleibt ihre Ankündigung: „Ich denke, jetzt ist der Moment für eine Europäische Migrationsmanagementpolitik.“ Klar ist nur, dass diese vom Regime in Minsk instrumentalisierten Migranten inzwischen zu Hunderten in Brandenburg ankommen. Die Lager in Bitterfeld sind bereits völlig überfüllt. Mit anderen Worten – Polen winkt die über die Ostgrenzen auf ihr Territorium gelangten Migranten durch – nach Deuschland. Auf ganz ähnliche Weise ist auch Griechenland dazu übergegangen, seine überfüllten Lager auf den Inseln zu leeren; man öffnet sie und lässt die Migranten weiterziehen, Richtung Germania. Dass ohnehin seit Jahren brüchige und vor allem zu Lasten Deutschlands nicht mehr funktionierende Dubliner Zuständigkeits-System ist nur noch Makulatur. In welchem geradezu aberwitzigen Widersrpruch zu dieser Realität stehen die wundervoll geglätteten Ausführungen der Kommissionspräsidentin in ihrer o.a. Rede: „Das neue Migrations- und Asylpaket gibt uns alles an die Hand, was wir brauchen, um die verschiedenartigen Situationen zu meistern, vor denen wir stehen.“
Zu diesem überaus brennenden Problem herrschte im Wahlkampf 2021 ein geradezu gespenstisches Schweigen im Walde.
Innere Verfasstheit der EU
Auch diese zunehmend existentielle Thematik wurde im Wahlkampf sorgfältig ausgeklammert. Darf man von einem Anwärter auf das Amt des Kanzlers des größten EU-Mitgliedstaates nicht mit Fug und Recht erwarten, dass er sich über den zentralen Antagonismus Gedanken macht, der sich gerade in unserer erweiterten EU zunehmend auftut? Wie steht eine neue Regierung zu Tendenzen einer „Überwindung“ des Nationalstaates zugunsten einer internationalen Organisation oder einer zumindest kontinentalen Superstaatlichkeit? Wie sollen wir umgehen mit Gegenbewegungen, die den Nationalstaat als Ort des Schutzes etwa gegen eine gesellschaftszerlegende Beliebigkeit von Märkten bewerten oder die – wie einige östliche Mitgliedstaaten – ihre nach 70 Jahren sowjetischer Vorherrschaft wiedergewonnene Souveränität als Kern ihrer nationalen Identität begreifen?
Es dürfte sich um eine der grundlegenden Zukunftsfragen unserer Gemeinschaft auf diesem Kontinent handeln. Zwar wurde der „Klimaschutz“ im Wahlkampf überaus reichlich thematisiert; umso mehr fiel das Fehlen jeglichen Hinweises auf, dass dieser Existenzbedrohung ausschließlich kontinental und global begegnet werden kann. Dass aber bis heute jeder EU-Mitgliedstaat im Grunde seine eigene Energie- und Klimapolitk verfolgt, haben weder Kandidaten noch Kandidatin in ihren Triellen gebührend herausgestellt.
Kurzum, wirtschaftliche Funktionalität und Bewahrung der Umwelt einerseits und die in Traditionen, Werten und demokratischer Überschaubarkeit wurzelnden Bindungen an die Nationalstaatsidee andererseits treffen zunehmend scharfkantig aufeinander. Wie lassen sich diese gegenläufigen Strömungen im Rahmen einer eher noch wachsenden Union zusammenführen? Wer sich für befugt hält, in das Kanzleramt in Berlin einzuziehen, hätte hier verantwortungsvoll Stellung beziehen müssen. Denn „beide Themen sind eng mit Fragen der Möglichkeit und Wünschbarkeit von Demokratie als Organisationsprinzip moderner Gesellschaften und der Demokratiesierbarkeit moderner Politik verknüpft“, schreibt Wolfgang Streek im CICERO (9/2021, S. 106 ff.).
Kein Wort davon. Statt mit engagierten Diskussionen über brennende Zukunftsfragen wurden wir mit weitgehend unverbindlichen Ausführungen in den Schlaf unkritischer Untertanen gesungen. Selten sind in einem Bundestagswahlkampf die europapolitische Urteils- und Kritikfähigkeit der Wählerinnen und Wähler derart desavouiert worden wie im Jahr 2021.