Im Karl-Marx-Werk lernte der Polygrafie-Nachwuchs sein Handwerk
Von André Wannewitz
Das Karl-Marx-Werk im thüringischen Pößneck war mein Ausbildungsbetrieb im ersten Lehrjahr. Hier legte ich ab September 1980 den Grundstein für eine erfolgreiche Berufsausbildung als Buchdrucker – und erlernte damit den Journalismus von der Pike auf. Dass ich im größten buchherstellenden Betrieb der DDR tätig sein durfte, der wie auch mein Stammbetrieb, die Volksdruckerei in Stendal, dem VOB Zentrag angehörte, war nicht minder prägend für meinen journalistischen Werdegang. Die Zentrag war ein durch die SED zentralgeleitetes Organ und umfasste über 90 Druckereien, Zeitungsverlage und Vertriebsorgane in der DDR. Neben der Lehre publizierte ich bereits als Volkskorrespondent in der Betriebszeitung der Zentrag, in der nach Lehrabschluss sogar meine Hausarbeit in Ausschnitten veröffentlicht werden sollte. Doch dazu kam es auf Geheiß der SED-Oberen nicht.
Als ich am 31. August 1980, also vor jetzt 40 Jahren, im Haus der Jugend und des Sports in Pößneck zusammen mit vielen anderen jungen Leuten aus mehreren Bezirken der DDR, vor allem aus dem heutigen Mitteldeutschland, zum feierlichen Lehrjahresauftakt in der Runde saß, war ich gespannt, was mich als Arbeiter im Sozialismus erwartet. Im Sinne von Karl Marx – das war der Namensgeber des Betriebes – und untermauert mit allerhand sozialistischer Ideologie sollten wir von nun an lernen, arbeiten und auf Zeit gemeinsam im betriebseigenen Wohnheim, in Pößneck Kartause genannt, leben und dem Antlitz des Sozialismus dienen. „Arbeiter. Wer ist mehr?“, titelte „Neues Deutschland“ einen Aufmacher, den ich damals im SED-Zentralorgan entdeckte.
Nun, für uns junge Leute war das natürlich was, nach den ersten drei Wochen Theorie in die Praxis einzusteigen und schon im Oktober 1980 am Druck von Speisekarten beteiligt gewesen zu sein, die anlässlich der Eröffnung des FDGB-Ferienheimes „Talsperre Zeulenroda“ in der Berufsausbildung des Karl-Marx-Werkes Pößneck produziert wurden. Heute ist das Haus des früheren gewerkschaftlichen Feriendienstes längst das Bio Seehotel in Zeulenroda und in Besitz der Bauerfeind-Gruppe. Auch ich bin dort schon lange Stammgast – immer mit dem Gefühl, am frühen Werden der Herberge im Kleinen teilgenommen zu haben.
„Erich Honecker – Aus meinem Leben“ war eine Buchpublikation, die im Karl-Marx-Werk Pößneck im SED-Parteitagsjahr 1981 produziert wurde. Im Gebäude meiner Betriebsschule „Heinz Kapelle“ warteten Stapel von gedruckten Büchern auf die weitere Verarbeitung in der Buchbinderei. Natürlich bekam auch ich dieses Werk in die Hand und habe es gründlich gelesen. Im Saarland geboren, wie er aufwuchs, sein frühes antifaschistisches Ansinnen und Honeckers Thesen von der Arbeiter- und Bauernmacht im Sozialismus. Ich bekam damals als 17-Jähriger, der 1963 geboren wurde, großen Respekt. Der Traum von einem gerechten Sozialismus war für mich allerdings schon 1988 ausgeträumt. Zwei Tage nach meinem 25. Geburtstag versagte ich der SED meine Gefolgschaft.
Ausgelöst durch einen Artikel in der „Jungen Welt“ habe ich während meiner Lehrzeit in Pößneck die Teilnahme einer FDJ-Delegation meiner Betriebsschule „Heinz Kapelle“ an einem DDR-weiten „Heinz-Kapelle-Traditionstreffen“ im Mai 1981 im Jugendtouristenhotel in Binz auf der Insel Rügen federführend begleitet. Heinz Kapelle, nach dem seit 1951 das Kapelle-Ufer im heutigen Berliner Regierungsviertel benannt ist, war der Anführer einer kommunistischen Jugendgruppe in Berlin und Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, der 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Kapelle erlernte zwischen 1928 und 1932 den Beruf des Buchdruckers. Mehr von Heinz Kapelle erfuhren wir in Binz dann vom Arbeiterveteran Kurt Ende, der zusammen mit Kapelle kämpfte. Zu dieser Gruppe gehörte auch der West-Berliner Erich Ziegler, der zusammen mit Erich Honecker im Zuchthaus Brandenburg-Görden saß und später lange Jahre Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) war. Ihn lernte ich beim nachfolgenden Kapelle-Treffen 1983 ebenfalls in Binz persönlich kennen. Diese Begegnung, lange nach meiner Pößnecker Lehrzeit, geriet ins Visier der Staatssicherheit, wie mir unmittelbar nach meiner Rückkehr in meinen Heimatort bewusst gemacht wurde.
Die Berufsausbildung im Karl-Marx-Werk umfasste die komplette Bandbreite des polygrafischen Spektrums. Satz, Reproduktion, Buch- und Offsetdruck, Chemiegrafie, Buchbinderei und Stereotypie hatten jeweils eigene Werkstätten. Neben angehenden Buchdruckern wurden auch Reprotechniker, Chemiegrafen, Retuscheure und Offsetdrucker ausgebildet. Der Buchdruck ist und bleibt aber die Basis aller anderen Druckarten und gilt bis heute als bedeutender kulturhistorischer Einschnitt, der tiefgreifende Veränderungen in der Informationsverarbeitung einleitete. Die Erfindung des modernen Buchdruckes geht auf den Mainzer Goldschmied Johannes Gutenberg zurück. Eine schöne Anschauung über die Produktionsvielfalt im Pößnecker Karl-Marx-Werk vermittelte uns Lehrlingen damals Betriebsdirektor Kurt Häuser bei seinem Besuch in unserem Wohnheim.