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Deutsche Einheit: "Der Sprung von Marx zum Markt ist gelungen"

Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff

Aktuelles Gespräch mit Dr. Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung

mdw: Herr Ministerpräsident, im 30. Jahr der Deutschen Einheit kann es für Sie politisch nicht besser laufen. Ein Jahr vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt befinden Sie sich höchst persönlich im Umfragehoch. Am 1. November übernehmen Sie für ein Jahr die Funktion des Präsidenten des Bundesrates, also das Spitzenamt in der Kammer der deutschen Bundesländer, und werden damit protokollarisch nach dem Bundespräsidenten die Nummer Zwei in Deutschland. Wenn Sie dieses Amt ganze 365 Tage ausüben wollen, müssten Sie zuvor als Regierungschef von Sachsen-Anhalt wiedergewählt werden, aber zunächst erst einmal antreten als Spitzenkandidat der CDU zur Landtagswahl 2021.

Hand auf’s Herz: Wann verkünden Sie Ihre Entscheidung, auch in der nächsten Legislaturperiode dem Land Sachsen-Anhalt als Ministerpräsident zu dienen? Die Mehrheit der Menschen zwischen Arendsee und Zeitz erwartet das von Ihnen.

Dr. Reiner Haseloff: Man freut sich natürlich, wenn man das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger spürt. Noch dazu in einer Krise, wie sie keiner von uns schon einmal erlebt hat. Daran gemessen sind wir bisher in Sachsen-Anhalt gut durch die herausfordernde Zeit gekommen. Offensichtlich hat die Landesregierung eine gute Arbeit gemacht. Aber die Krise ist noch lange nicht vorbei und wird langfristig Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft haben. Wir werden alles tun, um diese Folgen in Grenzen zu halten. Die Präsidentschaft im Bundesrat orientiert sich nicht an Wahlterminen, sondern wechselt in einem bestimmten Turnus zwischen den Bundesländern. Was ich damit sagen will: Ich werde meine Entscheidung über die Bereitschaft zu einer erneuten Spitzenkandidatur nicht davon abhängig machen. Aber es geht natürlich nicht nur um meine Entscheidung. Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir in der CDU im Herbst gemeinsam über die Spitzenkandidatur entscheiden werden. Das letzte Wort, wer unser Land führen soll, haben dann die Wählerinnen und Wähler.

Ich bin froh und dankbar, dass ich bereits so lange Ministerpräsident unseres schönen Bundeslandes sein darf. Gemeinsam mit allen Beteiligten haben wir es in dieser Zeit erfolgreich weiterentwickelt. Das gilt nicht zuletzt für die Wirtschaft. Viele Investoren haben sich mit Standorterweiterungen zu Sachsen-Anhalt bekannt, andere sind hinzugekommen. Zuletzt konnten wir mit dem geplanten Bau einer Bioraffinerie durch den finnischen UPM-Konzern in Leuna eine Großinvestition vermelden. Wichtig für uns sind aber vor allem die vielen innovativen Firmen im Mittelstand, die beispielsweise die Energiewende mitgestalten. Solar Valley startet nach einer Krise mit hunderten von neuen Mitarbeitern wieder durch.

mdw: Kommen wir zum Jubiläum. Drei Jahrzehnte Deutsche Einheit, die wir in diesem Heft Revue passieren lassen, haben für Deutschland, Europa und die Welt mehr Frieden, Wohlstand und Glück gebracht als je zuvor die Zeiten des Kalten Krieges. Die Ostdeutschen, zu denen auch Sie gehören, haben in zwei gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Systemen gelebt und können Sozialismus und Kapitalismus vergleichen. Wie fällt dazu Ihr Urteil aus? Ist auch die innere Einheit Deutschlands inzwischen vollendet?

Reiner Haseloff: Der Sozialismus ist gescheitert. Seine Philosophie mag für manche immer noch reizvoll sein. Sobald es aber darum ging, ihn in die Praxis umzusetzen, hat es nicht funktioniert. So war es auch in der DDR. Sie war ein System der Unfreiheit, sie war ein Unrechtsstaat. Allein damit, dass sie ihre Bevölkerung einsperrte und an ihren Grenzen hunderte Menschen töten ließ, hat sie sich diskreditiert. Nur durch dieses menschenverachtende Grenzregime im Kontext des Kalten Krieges hatte sie überhaupt so lange Bestand.

Die Menschen mussten sich arrangieren. Als Naturwissenschaftler hatte ich eine relativ unpolitische Nische, die trotzdem immer wieder verteidigt werden musste. Mir blieb freilich nicht verborgen, dass die DDR auf den politischen und vor allem wirtschaftlichen Ruin zusteuerte und das trotz der gut ausgebildeten und engagierten Menschen. In welcher Dynamik sich 1989/90  die Situation entwickelte, konnte natürlich auch ich nicht vorhersehen. Ich habe die friedliche Revolution von Anfang an unterstützt und die Wiedervereinigung herbeigesehnt. Ich wollte Freiheit und Demokratie, ich wollte die Soziale Marktwirtschaft. Das habe ich auch nie bereut.

Sie betonen zu Recht, dass uns die letzten Jahrzehnte Frieden und Wohlstand gebracht haben. Die umwälzenden Veränderungen stellten allerdings auch Anforderungen an uns, die wir nicht kannten und nicht vorhersahen. Für alle im Osten Deutschlands war es ein Umbruch. Viele wurden arbeitslos und mussten sich beruflich völlig neu orientieren. Trotzdem wünscht sich heute kaum jemand die DDR zurück. Die innere Einheit ist allerdings leider nach wie vor ein Thema. Uns unterscheiden die erwähnten Erfahrungen des Umbruchs, die es im Westen so nicht gibt. Für die Menschen dort änderte sich nach 1990 im Alltag so gut wie nichts, jedenfalls nichts vergleichbar Existenzielles. Dazu kommt, dass gar nicht so wenige Ostdeutschland bis heute überhaupt noch nicht besucht haben und sich für die hiesigen Probleme kaum interessieren. Das muss sich ändern.

mdw: War es aus Ihrer Sicht 1990 notwendig, mit der Wiedervereinigung alle politischen und ökonomischen und juristischen Strukturen der alten Bundesrepublik 1:1 in das neue Deutschland zu übernehmen? Hat das nicht erst den Kahlschlag der Wirtschaft in großen Teilen der früheren DDR möglich gemacht? Gerade Sie als früherer Wirtschaftsminister in Sachsen-Anhalt waren ja nicht nur bei Richtfesten und Einweihungen dabei, sondern kennen zum Beispiel auch die regionalen Sorgen in der Kleinstadt Tangermünde, beim Waschmittelhersteller Spee in Genthin und anderswo.

Reiner Haseloff: Die DDR war politisch und ökonomisch bankrott. In der Bundesrepublik dagegen hatte sich vieles bewährt. Die Wirtschaft florierte. Natürlich sind bei der Wiedervereinigung Fehler gemacht worden. Wenn man vom Rathaus kommt, ist man immer klüger als vorher. Möglicherweise hätten mehr Unternehmen erhalten werden können. Aber nie zuvor ist eine Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft transformiert worden. Und der Entscheidungsdruck war hoch. Daran gemessen waren wir erfolgreich. Der Sprung von Marx zum Markt ist gelungen.

Wo zunächst versucht wurde, Strukturen zu erhalten, wie zum Beispiel im Magdeburger Maschinenbau, ist das gründlich schief gegangen. Ergebnis der Transformation war und ist eine rein mittelständische Wirtschaftsstruktur. In- und ausländische Investoren, alteingesessene Unternehmen, das heimische Handwerk, zahlreiche Existenzgründer haben zum erfolgreichen Aufbau beigetragen. Bund, Land und EU haben das mit aufwändigen Hilfen unterstützt. Was uns fehlt, sind Konzerne mit großer Export- und Innovationskraft. Ebenso problematisch ist die ungerechte Aufteilung der Gewerbesteuer. Sie bevorteilt Firmensitze, die im Westen sind und benachteiligt reine Produktionsstätten. Daran versuchen wir etwas zu ändern.
Deshalb hegen und pflegen wir innovative Unternehmen mit einem hohen Wertschöpfungspotenzial. Wenn solche Unternehmen überregionale Gründer- und Innovationspreise erhalten wie zuletzt Tesvolt aus Wittenberg, dann sind das positive Zeichen für unser gesamtes Land. Die Sorgen der Menschen kenne ich gut. Von Anfang an war ich da in meinen Funktionen nah dran, angefangen mit der Zeit als Arbeitsamtsdirektor. Die Strukturprobleme in Teilen des Landes werden uns auch weiterhin begleiten, da dürfen wir uns nichts vormachen.

mdw: Die Deutsche Einheit, das muss man ganz nüchtern sagen, wurde 1990 für die westdeutsche arbeitende Bevölkerung zu einem riesigen Konjunkturprogramm. Der übergroße Teil lukrativer Positionen in fast allen Leitungsbereichen in Politik, Justiz, Verwaltung und auch Medizin in den neuen Ländern wurde mit westdeutschem Personal besetzt. Und auch in den Parlamenten bis hinunter in die Kreistage und Stadträte tummeln sich diese Leute. Wäre es deshalb jetzt nicht mal an der Zeit, den Posten eines Gerichtspräsidenten oder eines Universitätsrektors mit gebürtig ostdeutschem Personal zu besetzen? Die Ausbildung dafür müssten unsere jungen Leute doch inzwischen besitzen, oder?

Reiner Haseloff: Für viele ist es ein Ärgernis, dass eine große Zahl der Führungspositionen im Osten immer noch mit Westdeutschen besetzt ist, während man in den alten Bundesländern Ostdeutsche in diesen Positionen mit der Lupe suchen muss. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung war es noch verständlich, dass führende Verwaltungspositionen oft mit westdeutschen Juristen besetzt wurden. Nach der Wiedervereinigung ist aber eine ganze Generation herangewachsen und auch die heute 45-Jährigen haben ihre Berufsausbildung erst danach absolviert. Es gibt also inzwischen ein Reservoir im Osten aufgewachsener gut ausgebildeter junger Leute, aus dem wir stärker schöpfen könnten. Ich mache ihnen ausdrücklich Mut, noch stärker nach Führungspositionen zu streben.

Ich kann aber auch mit Hoffnungszeichen dienen: Das Amt der Generalstaatsanwältin von Sachsen-Anhalt wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine einheimische Top-Juristin übernehmen. Sie können sicher sein, dass ich das Thema immer im Blick habe, wenn ich persönlich mit solchen Angelegenheiten befasst bin. Es gibt noch eine weitere gute Nachricht: Eine erfahrene Juristin, die ebenfalls aus Sachsen-Anhalt stammt, wurde zur Richterin am Bundesverfassungsgericht  gewählt. Wie gesagt, das sind Hoffnungszeichen, bei denen es natürlich nicht bleiben darf.

mdw: Wo sehen Sie heutzutage die größten Defizite im Zusammenwachsen zwischen Ost und West? Und wo liegen Ihrer Meinung nach die größten Chancen?

Reiner Haseloff: Die größten Defizite liegen darin, dass wir immer noch zu wenig übereinander wissen. Wir haben in den letzten 30 Jahren einfach zu wenig miteinander gesprochen. Das gilt zumindest für die breite Bevölkerung. Vor allem finden die Lebensgeschichten der Ostdeutschen im Westen zu wenig Interesse. Im Zusammenhang mit dem Jubiläum der deutschen Einheit gibt es nun das Projekt der so genannten Erzählsalons, bei denen Geschichten aus ostdeutscher Perspektive erzählt werden. Ich begrüße dieses Projekt und wünsche ihm eine große Resonanz, gerade bei westdeutschen Zuhörern!

Große Chancen liegen meines Erachtens in der Unbefangenheit der jungen Generation, die mobiler ist als jede vor ihr. Als Beispiel nenne ich unsere Universitäten, an denen viele junge Menschen aus Westdeutschland studieren.

mdw: Eine der wichtigsten Herausforderungen erlebt Deutschland mit dem Beschluss zum Kohleausstieg. Davon sind die neuen Bundesländer, auch Sachsen-Anhalt, in besonderer Weise betroffen. Auch wenn bis zum endgültigen Abschalten der Werke noch etwas Zeit bleibt, muss jetzt die Zukunft organisiert werden für die Menschen und die Regionen, um die es geht. Ist der Struktur- und Klimawandel bis 2030 zu schaffen?

Reiner Haseloff: Er muss nicht bis 2030 abgeschlossen sein, es gibt noch einige Jahre mehr Zeit. Ob wir den Strukturwandel schaffen werden? Da bin ich sehr optimistisch, denn die Grundlagen sind jetzt gelegt. Wir können starten, ohne dass wertvolle Zeit verloren geht. Es war wichtig, dass wir die einschlägigen Gesetze, das Kohleausstiegsgesetz und das für uns besonders wichtige Strukturstärkungsgesetz noch vor der Sommerpause verabschiedet haben. Zwar hätten wir uns bei den Inhalten manches anders gewünscht. Doch ist es erst einmal wichtig, dass Rechtssicherheit hergestellt ist. Das schafft Vertrauen und Akzeptanz, die wir für den Wandel unbedingt brauchen.

Der Süden unseres Landes war über ein Jahrhundert in hohem Maße von der Braunkohle geprägt. Tausende Menschen verdienen dort oder in eng damit verbundenen Bereichen ihren Lebensunterhalt. Zudem sind in Sachsen-Anhalt wertschöpfungsstarke, aber auch energieintensive Industrien beheimatet, die vom Braunkohlestrom abhängig sind. Wir müssen jetzt also Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze schaffen und gleichzeitig die regenerativen Energien so ausbauen, dass sie verlässlich Strom für unsere Unternehmen und Haushalte liefern.

Unser Vorhaben, in Deutschland zunächst aus der Kernkraft und dann auch aus der Kohle auszusteigen, ist machbar, aber sportlich. Es ist daher schon reichlich realitätsfremd, wenn manch einer den Eindruck erweckt, wir könnten sofort alle Kohlekraftwerke abschalten, ohne dadurch die Versorgungssicherheit zu gefährden. Unser Wohlstand ist keine Selbstverständlichkeit. Durch den Ausstiegsplan und die Strukturhilfen haben wir nun ausreichend Zeit, um den Wandel nachhaltig zu gestalten.

mdw: Am 1. Juli hat Deutschland für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernommen. Welche Hoffnungen und Wünsche verbinden Sie damit für das weitere wirtschaftliche Vorankommen der neuen Bundesländer?

Reiner Haseloff: Die deutsche Ratspräsidentschaft wird in hohem Maße von den Auswirkungen der Corona-Pandemie geprägt sein. Wichtige Partnerländer Deutschlands sind von der Pandemie noch weit stärker betroffen als wir. Es ist in erster Linie eine Frage der Solidarität, diesen Ländern zu helfen. Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch. Diese Hilfe liegt aber auch in unserem deutschen Interesse. Das gilt für unser Bundesland und Ostdeutschland genauso, denn unsere Exporte gehen vor allem in andere EU-Länder. Für ein starkes Sachsen-Anhalt brauchen wir ein starkes Europa. Wir erleben einen ganz wichtigen Moment in der Geschichte Europas, wo wir mehr denn je auf den Zusammenhalt achten müssen. Da kommt es darauf an, das Richtige zu tun. Ein anderes Thema, das eine Rolle spielen wird, ist der EU-Haushalt für 2021 bis 2027. Es ist schon länger klar, dass die ostdeutschen Länder mit einer deutlichen Reduzierung der Strukturhilfen rechnen müssen. Wir werden natürlich alle Einflussmöglichkeiten nutzen, um die Einbußen für Sachsen-Anhalt in vertretbaren Grenzen zu halten. Denn die Hilfen aus Brüssel werden auch künftig von hoher Bedeutung für die Landesentwicklung sein.

Das Gespräch führte mdw-Chefredakteur André Wannewitz

 


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