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Der Finanzrahmen und die Corona-Hilfen - Die EU auf dem Weg zur "Transfer-Union"?

Dr. Hans Jörg Schrötter

Politisch betrachtet und analysiert von Dr. Hans Jörg Schrötter, Berlin

Souveräne Staaten haben es gut – sie können Steuern erheben und für ihre Einnahmen selbst sorgen. Die Europäische Union (EU) ist kein Staat; sie besitzt keine Finanzhoheit, kann also ihre Einnahmen weder selbst bestimmen noch als Steuern erheben. Der Haushalt der EU wird, kurz gesagt, aus Mitteln ihrer Mitgliedstaaten finanziert.

Diese Mittel fließen der EU nach einem bestimmten Schlüssel zu und stehen ihr dann als „Eigenmittel“ zur Verfügung. Diese Eigenmittel stützen sich vorrangig auf Einnahmen aus einem festen Anteil an den Mehrwertsteuer-Einnahmen der Mitgliedstaaten sowie auf Einnahmen aus einem prozentualen Anteil am Bruttonationaleinkommen (BNP) der einzelnen EU-Länder, also ihrer wirtschaftlichen Leistung während eines Jahres. Dieser Anteil lag bisher bei etwa einem Prozent des BNP des jeweiligen Mitgliedstaates; nach Aussscheiden des gewichtigen „Nettozahlers“ Großbritannien wird über eine Anhebung dieser Prozentgrenze diskutiert.

Einnahmen und Ausgaben müssen übereinstimmen. Über Schuldenaufnahmen darf der EU-Haushalt gemäß Artikel 311 AEUV nicht finanziert werden. Also bedarf es eines möglichst verbindlichen Finanzrahmens. Neben den Verhandlungen über „Corona-Hilfen“ dürfte die Einigung über den neuen Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 die heftigste Herausforderung für die 6-monatige deutsche EU-Präsidentschaft darstellen.

Das Verfahren
Alle sieben Jahre legen die Regierungen der Mitgliedstaaten in regelmäßig zähen Ringkämpfen perspektivisch fest, wie viel Geld die Europäische Union für welche Bereiche ausgeben darf und soll. Vor allem: die Mitgliedstaaten müssen hier einstimmig entscheiden. Das sich anschließende Verfahren ist kompliziert. Schließlich geht es um nennenswerte Summen. Das Aufstellen, das Ausführen und das Kontrollieren des Haushalts ist Aufgabe von vier Organen der EU: Die Europäische Kommission arbeitet ihn aus; der Rat der EU und das Europäische Parlament (EP) stellen ihn auf, und dem Europäischen Rechnungshof obliegt die spätere Prüfung.

Aber die „Fronten“ verlaufen nicht nur zwischen diesen Organen der EU. Der eigentliche „high noon“ spielt sich im Rat der EU ab, der die Ebene der Nationalstaaten repräsentiert. Hier stehen sie sich gegenüber, die „Interessengruppen“. Da finden sich die „Nettozahler“ Schulter an Schulter zusammen, also Deutschland, Dänemark, Österreich, Schweden und die Niederlande, die mehr Geld an die EU überweisen als sie aus Brüssel erhalten. Ihnen stehen Agrarstaaten wie Frankreich gegenüber – aber auch die Ost- und Südeuropäer, die in besonderem Umfang von den Haushaltsmitteln profitieren, die in die Strukturfonds fließen. Nord gegen Süd, Ost gegen West, alles ist zu besichtigen. Jeder gegen jeden? Wenn man am Ende trotz alledem ein Ergebnis erzielt, ist das Wort „Kompromiss“ jedenfalls passend.

Mehrjähriger Finanzrahmen
Das zentrale Planungsinstrument der EU für die Verwendung der Gelder heißt „Mehrjähriger Finanzrahmen“ (MFR). Gemäß Artikel 312 AEUV soll er sicherstellen, dass die Ausgaben der Union innerhalb der Grenzen ihrer Eigenmittel eine geordnete Entwicklung nehmen. Seine Regelungen fixieren detailliert die Finanzausstattung aller wesentlichen Ausgabenprogramme der EU für einen Zeitraum von sieben Jahren. Die festgelegten Obergrenzen sind zugleich für den jeweiligen jährlichen Haushaltsplan der Union verbindlich, der in einem gesonderten Verfahren beschlossen wird.

Seit dem Lissabon-Vertrag von 2009 wird der MFR in Form einer regulären EU-Verordnung erlassen; der Rat muss diese Verordnung einstimmig beschließen, und zwar nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, für die lediglich eine Mehrheit erforderlich ist (Artikel 312, Absatz 2 AEUV).
Für den Haushalt 2014 bis 2020 wurde der Finanzrahmen auf 960 Milliarden Euro – und damit auf etwa 1 Prozent des EU-Bruttonationaleinkommens (BNE) – begrenzt. Vor dem Hintergrund der Staatsschuldenkrise und angeschlagener nationaler Haushalte setzte sich die deutsche Regierung seinerzeit gegen eine Erhöhung der EU-Ausgaben ein – mit Erfolg. Stattdessen sollten die veranschlagten Mittel effizienter verwendet werden. Trotz der gelungenen Konsolidierung blieb Deutschland unverändert größter Nettozahler der Union und trägt knapp 20 Prozent zum EU-Etat bei.

Der letzte Mehrjährige Finanzrahmen (MFR) der EU für die Finanzperiode 2014 bis 2020  ist – nach wie üblich politisch höchst brisanten Verhandlungen zwischen Rat der EU, Europäischem Parlament und EU-Kommission – im Dezember 2013 verabschiedet worden. Die Verhandlungen über den neuen MFR für die Jahre 2021 bis 2027 sind in vollem Gange. Sie haben die gigantische zusätzlich Aufgabe zu bewältigen, den mit dem Ausscheiden Großbritanniens fortgefallenen Anteil an dessen bisherigen Nettozahlungen zu kompensieren – und dies bei diversen auf europäischer Ebene neu hinzugekommenen Aufgaben wie etwa dem Klimaschutz oder der Digitalisierung.

Nachden der Europäische Rat auf seinem Gipfeltreffen am 20./21.Februar 2020 unverändert keinen gemeinsamen Standpunkt zum nächsten MFR 2021 bis 2027 erzielen konnte, warnte das Europäische Parlament davor, dass die EU „bedeutungslos“ werden könnte. Kurzum – die deutsche Ratspräsidentschaft ist nicht zu beneiden.

Was mit dem MFR auf sieben Jahre in Stein gemeißelt wird, ist die Verteilung der Gelder. Diese Verteilung aber wird nur sehr zaghaft und wenig flexibel etwa an Integrationsfortschritte, Kooperationsbereitschaft oder aktive Signale europäischer Solidarität geknüpft. Man denke etwa an die – in zahlreichen Mitgliedstaaten seit Jahren fehlende – Bereitschaft, sich an einer fairen Verteilung von Flüchtlingen zu beteiligen.

EU heute – eine Transferunion
Tatsächlich verfügt die EU seit einiger Zeit über verschiedene Transferinstrumente, die nicht mehr in ihren Haushaltsrahmen eingebunden sind und außerhalb ihres Budgets ein erstaunliches Eigenleben entwickeln. So gibt es neben dem aufwendigen Haushalt heute nennenswerte zusätzliche Fiskalkapazitäten auf intergovernementaler Ebene – wie etwa den Europäischen Stabilbtätsmechanismus (ESM). Mit immerhin 700 Milliarden Euro in seinem Stock ragt er – als unstreitig paralleles Finanzierungsinstrument – ziemlich dicht an den kompletten Mehrjährigen Finanzrahmen heran. Und die von den Euro-Staaten getragene sogenannte „Europäische Finanzstabilisierungsfazilität“ (EFSF), also eine ebenfalls zwischenstaatliche Zweckgemeinschaft, ist mit „Rettungsschirm“-Geldern in Höhe von 440 Milliarden Euro ausgestattet.

Das kontrovers diskutierte Szenario einer „Transfer-Union“ ist also in der Welt. Der derzeit verhandelte Corona-Hilfsfonds aber sprengt nun alle bisher erlebten Dimensionen. Und wenn ein deutsch-französischer Vorschlag darauf hinausläuft, nicht nur 250 Milliarden Euro an Krediten zu vergeben, sondern vor allem 500 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse unter die – von der Pandemie besonders betroffenen – Mitgliedstaaten zu streuen, bleibt unerwähnt, dass die Empfängerländer dieser Hilfsgeschenke oft zugleich diejenigen Mitgiedstaaten sind, die als Nettoempfänger ohnehin von Geldern aus dem „normalen“ Haushalt profitieren.

Kurzum – es sind die Nettozahler, die das 750 Milliarden Euro schwere Corona-Hilfspaket zu stemmen haben. Zugleich lastet auf ihnen die Erwartung, den neuen EU-Haushalt maßgeblich zu stützen. Gerade der Austritt Großbritanniens dürfte es unumgänglich machen, das Budget der EU aufzustocken und neue Transfermechanismen einzuführen, um den Anforderungen an eine zusammenwachsende und interdependente EU mit einem Binnenmarkt und einer gemeinsamen Währung zu genügen. Ob dabei die Balance zwischen Solidarleistungen und mitgliedstaatlicher Eigenverantwortlichkeit gewahrt wird, bleibt abzwarten.

Italiens Betteln um „Corona-Bonds“
Inzwischen zeigen sich bei bestimmten Mitgliedstaaten unverholene Erwartungen, die unmißverständlich von einer „Tranfer-Ideologie“ gekennzeichnet sind. Seit April 2020 etwa läuft in Italien eine massive Kampagne gegen „Hitlers Enkel“ und Berlin als neues „Reich“, betrieben immerhin von der regierenden Fünf-Sterne-Bewegung, gestützt vom sozialdemokratischen Koalitionspartner PD. Hintergrund: mit der Coronavirus-Krise drohte der Staatshaushalt des seit 1968 tief dauerverschuldeten Landes endgültig zu kollabieren. Geschickt wollte das Land die Krise nutzen und über das umstrittene Vehikulum der sogenannten Eurobonds die eigenen Schulden und Haushaltsrisiken vergemeinschaften – sprich: elegant auf solvente europäische Partner und allen voran auf Deutschland abwälzen. Die Bundesregierung wagte es, das Ansinnen abzulehnen – und fast automatisch wird die heutzutage nur noch albern anmutende Vergangenheits-Keule geschwungen. Nur zur Klarstellung: das europäische Recht verbietet in Artikel 125 Absatz 1 AEUV ausdrücklich das Einstehen eines EU-Landes für die Schulden eines anderen EU-Landes (sog. No-Bailout-Klausel).

Fazit
Genauso wie seinerzeit die finanzielle Krise Griechenlands haben die aktuellen, durch die Corona-Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Verwerfungen aller Welt erneut offenbart, dass wesentliche und für eine Währungsunion möglicherweise überlebenswichtige Funktionen von einem Staatshaushalt auf EU-Ebene nicht zu leisten sind. Angesichts veränderter Herausforderungen muten Debatten um Nettozahlungen oder an Bruttoinlandseinkommen orientierte Obergrenzen wie überkommene Gedankenspiele aus längst vergangenen Epochen an. Die „Transfer-Union“ – sprich: das Eintreten der zahlungskräftigen Länder für die bedürftigeren – ist zur Realität geworden.


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