"Ohne den Dialog mit der Bevölkerung lassen sich große Infrastrukturprojekte nicht umsetzen"
mdw: Herr Kapferer, die Übertragungsnetze sind ein Kernelement der Energiewende in Deutschland. Welche Rolle spielt 50Hertz hier als wichtiges Unternehmen in Ostdeutschland?
Stefan Kapferer: Unser Höchstspannungsnetz hat eine Stromkreislänge von über 10 000 Kilometern, es reicht von Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern im Norden und Nordosten bis hinunter zum Erzgebirge in Sachsen. 50Hertz ist ferner für die Systemführung und damit für die Frequenzstabilität verantwortlich. Insofern haben wir eine Schlüsselfunktion bei der Transformation des Energiesystems in dieser Region und weit darüber hinaus.
mdw: Welche Veränderungen wird es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten geben.
Stefan Kapferer: Energieproduktion spielte in unserem Netzgebiet schon immer eine zentrale Rolle. Die Lausitz war zu DDR-Zeiten eine wichtige Energieregion und ist es auch heute noch. Und zwar für ganz Deutschland. Wenn die Kohlekraftwerke sukzessive bis 2038 vom Netz gehen, werden sich die Zentren der Stromerzeugung jedoch stärker Richtung Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und das nördliche Brandenburg verschieben. Das heißt: Der Nordosten Deutschlands wird mit seinen Windkraft- und Solaranlagen immer mehr zum „grünen“ Kraftwerk der Energiewende. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen strukturellen Wandel hin zu mehr Klimaschutz aktiv zu gestalten und weiterhin eine sichere und stabile Stromversorgung zu gewährleisten. Dazu brauchen wir eine Netzinfrastruktur, die auf eine schwankende Stromerzeugung ausgerichtet ist und die zugleich große Strommengen störungsfrei abtransportieren kann.
mdw: An welchem Punkt steht die Energiewende im Osten Deutschlands?
Stefan Kapferer: In unserer Region wird dank steigender Erzeugungskapazitäten, immer besser ausgebauter Übertragungs- und Verteilnetze und einer hochprofessionellen Systemführung bereits ca. 60 Prozent des Strombedarfs durch Erneuerbare Energien gedeckt. Aber es gibt Nadelöhre, an denen sich der regenerativ erzeugte Strom immer wieder staut und nicht ungehindert Richtung Süden und Westen abtransportiert werden kann.
mdw: Ein Fakt, der oft kritisiert wird. Ist das unvermeidlich?
Stefan Kapferer: Nein. Dieses Engpassmanagement ist nicht nur ärgerlich, sondern auch teuer. Das Abregeln muss entschädigt werden, gleichzeitig müssen zur Frequenzstabilität konventionelle Kraftwerke hochgefahren werden. Dabei wird dieser Strom heute und in Zukunft in den Verbrauchszentren dringend benötigt. In wenigen Jahren gehen die letzten Kernkraftwerke in Bayern und Baden-Württemberg vom Netz. Daher sind Netzaus- und Netzneubau nicht nur für Deutschland, sondern auch im europäischen Zusammenhang so wichtig. Nur mit neuen, leistungsstarken Leitungen lassen sich die Engpässe dauerhaft beseitigen.
mdw: An welchen wichtigen Leitungsbauprojekten arbeitet 50Hertz gerade?
Stefan Kapferer: 2020 ist für uns das Wichtigste ein grenzüberschreitendes Projekt in der Ostsee mit dem Namen „Combined Grid Solution“. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Interkonnektor zwischen Deutschland und Dänemark, in den gleichzeitig die deutschen Windparks Baltic 1 und 2 und der dänische Windpark Kriegers Flak integriert sind. So etwas gab es bisher noch nicht, und es ist eine technische und energiewirtschaftliche Herausforderung. Derzeit laufen noch die Testreihen für den Konverter im Umspannwerk Bentwisch bei Rostock.
Offshore-Windkraft ist ohnehin für uns ein sehr wichtiges Thema. Wir haben kürzlich zwei Windparks nordöstlich von Rügen ans Netz angebunden. Jetzt steht eine Erweiterung mit zwei weiteren Windparks im gleichen Seegebiet an. Insgesamt stehen dann dort rund 1,5 GW elektrischer Leistung zur Verfügung. Das entspricht ungefähr der Leistung des Kernkraftwerks Isar 2 in Bayern.
mdw: Aber der Strom muss von der Ostsee in den Süden transportiert werden. Durch Ostdeutschland soll dann der sogenannte SuedOstLink führen. Warum ist dieses Projekt so wichtig?
Stefan Kapferer: Es handelt sich um eine rund 540 Kilometer lange Höchstspannung-Gleichstromleitung zwischen Wolmirstedt bei Magdeburg und Landshut in Bayern, die weitgehend als Erdkabel geführt werden soll. Erstmals auf einer Spannungsebene von 525 kV übrigens. Die Verbindung hat eine Leistung von 2 GW, eventuell sogar auf 4 GW ausbaufähig. Diese Leitung soll dafür sorgen, dass kaum noch Netzengpässe im Norden unseres Netzgebietes vorkommen. Der SuedOstLink (SOL) wird sehr leistungsfähig sein und viele Probleme lösen, die wir heute schon sehen.
mdw: Wie kommen denn die Planungen und Genehmigungen voran?
Stefan Kapferer: Trotz der besonderen Umstände, die mit der Corona-Pandemie verbunden sind, liegen wir ganz gut im Zeitplan. In beiden nördlichen Abschnitten hat die Bundesnetzagentur im Rahmen der sogenannten Bundesfachplanung einen 1 000 Meter breiten Korridor festgelegt. Auf dieser Basis erfolgt jetzt die Feinplanung. Noch in diesem Quartal wollen wir bei der BNetzA die Anträge auf Eröffnung der Planfeststellungsverfahren stellen.
mdw: Gerade dieses Projekt wird in den betroffenen Regionen stark kritisiert. Es hat sich eine Bürgerinitiative gegen den SuedOstLink gegründet, die teilweise auch politisch Unterstützung findet. Wie gehen Sie mit der Kritik um?
Stefan Kapferer: Wir leben in einer Demokratie, und da muss man mit Kritik konstruktiv umgehen. Es handelt sich um ein sehr großes Infrastrukturprojekt. Es erfolgen über einige hundert Kilometer Erdarbeiten mit schwerem Gerät auf einer Breite bis zu 40 Metern. Wir versuchen, Mensch und Natur so wenig wie möglich zu beeinträchtigen – gleichzeitig ist uns klar, dass unsere Planungen zu Konflikten führen. Wer möchte schon gerne eine Großbaustelle vor dem eigenen Haus oder Dorf haben? Für uns ist es wichtig, diese Konflikte frühzeitig zu kennen, die Hinweise der Anwohner und Gemeinden in unsere Planungen aufzunehmen und sie dadurch inhaltlich zu verbessern. Basis dafür ist ein umfassender Dialog vor Ort über das Vorhaben. Wir veranstalten Infomärkte, sind mit unserem DialogMobil im Einsatz, geben online und telefonisch Auskünfte und nehmen Hinweise auf. Wir sind mit Bürgermeistern, mit Anwohnern und auch Bürgerinitiativen im regelmäßigen Austausch und suchen das Gespräch. Ohne Beteiligung der Bevölkerung lassen sich große Infrastrukturprojekte nicht umsetzen.
mdw: Manche Kritiker sagen, der Netzausbau in dieser Dimension – und damit auch der SuedOstLink – seien gar nicht erforderlich für die Energiewende. Wie stehen Sie dem gegenüber?
Stefan Kapferer: Ich kenne diese Argumente seit vielen Jahren. Auch aus den betroffenen Regionen – vermittelt über Medien-Berichterstattung und das Internet – hört man das immer wieder. Die Kernthese lautet: Würde man die Energiewende vollkommen dezentral gestalten, dann wären Stromautobahnen wie der SuedOstLink überflüssig. Jede Region könnte dann für den eigenen Bedarf produzieren. Das hört sich auf den ersten Blick plausibel an. Als Beleg werden dann einige wenige ländliche Ökoenergie-Kommunen herangezogen, die sich nahezu autark mit Strom aus Wind, Sonne, Biogas und Abwärme versorgen.
mdw: Was ist daran aus Ihrer Sicht falsch?
Stefan Kapferer: Diese Argumentation ignoriert vollkommen, dass Deutschland ein hochindustrialisiertes Land ist, und der Strombedarf in unseren volkswirtschaftlichen Kraftzentren im Süden und Westen sehr hoch ist.
Mein Paradebeispiel ist immer die BASF in Ludwigshafen. Sie benötigt 6 Terawattstunden Strom pro Jahr und betreibt zur Deckung des Energiebedarfs drei Gas- und Dampfturbinenkraftwerke mit einer elektrischen Leistung von 850 Megawatt. Wollte man diesen Strombedarf ausschließlich mit regionalen erneuerbaren Energien decken, müsste man hunderte sehr hohe und leistungsstarke Windkraftanlagen, große Solarparks und Biogasanlagen im Oberrheintal, im Odenwald und im Schwarzwald errichten. Und zwar ausschließlich, um den Strombedarf von BASF zu decken. Man hätte noch keinen einzigen Haushalt in dieser bevölkerungsreichen Region mit Strom versorgt. Auch nicht in meiner Heimatstadt Karlsruhe.
mdw: Also, könnte man sagen, ist Dezentralität der falsche Ansatz?
Stefan Kapferer: Nein, aber wir brauchen beides. Dezentrale Stromerzeugung vor Ort nahe am Verbraucher plus Stromerzeugung dort, wo die Windverhältnisse günstig sind oder die Solareinstrahlung hoch. Wir brauchen Offshore-Windkraft an der Nord- und Ostseeküste sowie weiterhin auch an Land an windstarken und relativ dünn besiedelten Standorten in Nord- und Nordostdeutschland. Und auch mehr dezentrale Photovoltaik überall in Deutschland, in der Fläche und auch auf Dächern.
mdw: Ist das Umwandeln von Strom in Wärme eine Lösung, wenn es Netzengpässe gibt und Windkraftanlagen abgestellt werden müssen?
Stefan Kapferer: Temporär und in bestimmten Regionen auf jeden Fall. „Nutzen statt Abregeln“ ist immer dann sinnvoll, wenn große Mengen Windenergie nicht vollständig abtransportiert werden können. Wir haben daher in Kooperation mit mehreren Stadtwerken einige sogenannte Power-to-Heat-Projekte gestartet. Den Anfang werden wir voraussichtlich 2021 in Neubrandenburg und Rostock machen, es folgen dann noch weitere Anlagen in Hamburg, Parchim und Stralsund. Das Prinzip ist relativ einfach. Wenn wir zu viel Windstrom im Netz haben – das ist insbesondere zwischen Herbst und Frühjahr der Fall – können wir zentral große Tauchsieder in Betrieb nehmen. Diese ersetzen dann die Wärmeproduktion im benachbarten fossilen Heizkraftwerk, es steht dann still. Stattdessen werden die angeschlossenen Fernwärmesysteme mit dieser grünen Fernwärme gespeist. Das hat sowohl einen volkswirtschaftlichen Nutzen als auch einen erheblichen CO2-Minderungseffekt. Wir wollen jetzt in diesen 4 – 5 Projekten testen, wie gut das funktioniert, und ob es auch betriebswirtschaftlich sinnvoll ist.
mdw: Und wenn es sich bewährt?
Stefan Kapferer: Dann kann man über weitere solcher Projekte nachdenken in Städten, die über Fernwärmenetze verfügen. Auch über Projekte, mit Hilfe von Windstrom Wasserstoff zu erzeugen, denken wir nach. Trotzdem muss man sagen: Strom in andere Energieformen wie Wärme oder Kraftstoffe zu verwandeln, hat immer hohe Wirkungsgradverluste zur Folge. Deshalb muss unsere Priorität bleiben, Strom für Stromanwendungen zur Verfügung zu stellen. Und das geht nur über das NOVA-Prinzip: Netzoptimierung vor -verstärkung vor -ausbau.
mdw: Welche Konsequenzen ergeben sich für 50Hertz aus dem Kohleausstiegsgesetz?
Stefan Kapferer: Der Kohleausstieg wird erheblichen Einfluss haben auf das Netzsystem, weil fast alle konventionellen Großkraftwerke in Ostdeutschland das System verlassen werden. Da das Lausitzer Revier am Ende dieses Ausstiegsprozesses an der Reihe ist, haben wir jetzt noch einige Jahre Zeit, um das Netz darauf vorzubereiten und für entsprechende Netzstabilität zu sorgen.
mdw: Im vergangenen Jahr standen die Kohlekraftwerke wegen steigender CO2-Preise schon sehr häufig still. Wird das zum Dauerzustand in den kommenden Jahren?
Stefan Kapferer: Wir erleben das jetzt in Folge der Corona-Pandemie auch wieder, weil die Stromnachfrage gesunken ist. Die Erneuerbaren haben gesetzlichen Vorrang bei der Einspeisung, die Börsenstrompreise sind niedrig, die Kohlekraftwerke laufen nicht. Wir hatten jetzt im Frühjahr Wochen, da lieferten Wind, Sonne und Biomasse fast 100 Prozent des Strombedarfs. Das sind Zahlen, die hätte vor 10, 15 Jahren niemand – auch nicht bei 50Hertz – für technisch möglich gehalten. Vor diesem Hintergrund kann natürlich niemand ausschließen, dass das eine oder andere Kohlekraftwerk aus betriebswirtschaftlichen Gründen schon vor dem geplanten Zeitpunkt vom Netz geht. Deshalb bereiten wir uns jetzt als 50Hertz auf diese Situation vor.
mdw: Der Wind weht nicht immer. Die Sonne scheint, wenn überhaupt, nur tagsüber. Wie kann die Versorgung rund um die Uhr dennoch gesichert werden?
Stefan Kapferer: Natürlich werden wir an der einen oder anderen Stelle auch Gaskapazitäten brauchen. So soll das Kohlekraftwerk Schkopau nach Stilllegung durch ein Gaskraftwerk ersetzt werden. Es gibt auch Überlegungen, in der Lausitz ein entsprechendes Gaskraftwerk zu errichten. In manchen Städten – dazu gehört auch Berlin – ist das auch notwendig, weil die Kohlekraftwerke nicht nur Strom, sondern als Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen auch Fernwärme erzeugen. Das ist hocheffizient und ein wichtiger Beitrag für den Klimaschutz.
Klar ist: Es muss ausreichend Reservekapazität vorhanden sein, um Dunkelflauten zu überbrücken und auch um die Frequenz stabil zu halten. Wir sehen aber keine Gefährdung der Netzstabilität, wenn der Kohleausstieg stattfindet.
mdw: Was sollte denn beim Ausbau der Erneuerbaren Energien passieren?
Stefan Kapferer: Wir müssen da schneller vorankommen. Natürlich gibt es in Politik und Wirtschaft aktuell eine riesengroße Her-ausforderung, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in den Griff zu bekommen. Da sind jetzt viele Kräfte gebunden. Aber das sollte nicht zu Lasten der Energiewende und des Klimaschutzes gehen.
mdw: Wo sehen Sie noch Ausbaupotenzial?
Stefan Kapferer: In unserem Netzgebiet auf jeden Fall noch vor der Ostseeküste. Dort werden wir zusätzliche Windparks brauchen. Auch Onshore gibt es noch Potenzial für Windkraft. Hier ist die Akzeptanz in der Bevölkerung die größte Herausforderung. Wir brauchen politisch vernünftige Lösungen. Wir müssen einerseits Rücksicht nehmen auf berechtigte Kritik von Betroffenen und dürfen Sorgen und Ängste nicht pauschal abbügeln. Aber wir müssen konsequent und schnell dort die Erneuerbaren ausbauen, wo es einigermaßen konfliktfrei möglich ist. Das gilt nicht nur bei der Windenergie, sondern auch bei Photovoltaik. Hier sind gerade einige große Freiflächenprojekte in Brandenburg am Start, nördlich von Barnim beispielsweise ein Solarpark mit fast 200 MW. Das ist ein gutes Signal, denn bei der PV hat es eine unglaublich positive Preisentwicklung bei den Stromgestehungskosten gegeben. Photovoltaik-Freiflächenanlagen sind heute ohne Förderung wettbewerbsfähig.
mdw: Wie schätzen Sie den zukünftigen Strombedarf ein? Wird er eher sinken oder steigen?
Stefan Kapferer: Momentan haben wir ja eine kurzfristige Delle beim Bedarf. Aber mittel- und langfristig wird er moderat steigen. Der Strombedarf der Elektromobilität ist allerdings wesentlich geringer, als viele immer befürchten. Wenn wir in Deutschland eines Tages rund 10 Millionen Elektroautos haben – das ist auch das Ziel der Bundesregierung für 2030 – dann steigt der Stromverbrauch nur um vier bis fünf Prozent. Das ist keine dramatische Zahl.
mdw: Welche wichtigen Innovationen sehen Sie auf die Energiewirtschaft zukommen?
Stefan Kapferer: Für uns als Übertragungsnetzbetreiber ist es ein wichtiges Thema, wie man die Auslastung der Leitungen technisch erhöhen und damit mehr Strom transportieren kann. Das verbessert die Kosteneffizienz. Und es ist natürlich im Sinne der Akzeptanz besser, bestehende Leitungen zu optimieren oder zu verstärken, anstatt neue Leitungen zu bauen. Da gibt es noch viel zu forschen und anzuwenden, auch unter Einsatz selbstlernender Systeme, also der sogenannten Künstlichen Intelligenz.
Und natürlich beteiligen wir uns als Netzbetreiber auch an Pilotvorhaben zur Nutzung von Wasserstoff. Auch wenn für eine Wasserstoffproduktion in großindustriellem Maßstab in Deutschland die Erzeugungspotenziale der Erneuerbaren Energien nicht ausreichen, sollten wir hierzulande auf jeden Fall das Know-How aufbauen und eine technologische Führungsrolle übernehmen.
Ich bin sicher: Wir werden in den nächsten Jahren noch sehr viele Innovationen erleben und anwenden. Das ist auch unbedingt erforderlich, wenn wir bis 2050 die Energie- und Verkehrswende schaffen und einen klimaneutralen europäischen Kontinent erreichen wollen.
Das Gespräch führte mdw-Chefredakteur André Wannewitz