"Eine Union, die mehr erreichen will" - Die neue EU-Kommission legt los
„Neue Besen kehren gut.“ Kaum im Amt, hat die seit Ende 2019 in Brüssel unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen für uns Europäer segensreich tätige Europäische Kommission am 29. Januar 2020 ihr Arbeitsprogramm vorgelegt. Es trägt den vielsagenden Titel „Eine Union, die mehr erreichen will“. Sie wolle „die Vision, die Richtung und das Tempo für die nächsten fünf Jahre vorgeben“. Dieses Vorhaben hat sie in die folgenden sechs Zielbeschreibungen gegliedert:
Ein europäischer Grüner Deal („Green Deal“)
So heißt ein im Dezember 2019 beschlossenes umfangreiches Gesetzgebungsprogramm, mit dem ein „klimaneutrales“ Europa bis 2050 angestrebt wird. Geplant ist ein kompletter Umbau von Energieversorgung, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft, damit ab 2050 keine neuen Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen und die globale Erwärmung gestoppt wird.
Es gehe auch um neue Jobs. Eine wichtige Rolle soll ein „Just Transition“-Fonds für einen sozial gerechten Strukturwandel spielen. Ziel sei es, 100 Milliarden Euro an Investitionen für die besonders gefährdeten Sektoren und Regionen zu mobilisieren, um tief greifende Transformationsprozesse in allen Wirtschaftsbereichen anzustoßen.
Insgesamt bezifferte die Kommission die nötigen zusätzlichen Investitionen mit 260 Milliarden Euro jährlich. Das entspricht 1,5 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der EU in 2018. Das Geld soll sowohl von öffentlicher als auch von privater Seite kommen. Eine zentrale Rolle käme der Europäischen Investitionsbank zu.
Ziel bis 2050 „unumkehrbar“
Ein zentrales Klimagesetz soll das Ziel für 2050 „unumkehrbar“ festschreiben. Die europäische Industrie, die künftig scharfe Umweltauflagen erfüllen muss, soll mit einem „Carbon Border Mechanism“ vor klimaschädlich produzierten Billigimporten geschützt werden, möglicherweise mit Zöllen.
Der Emissionshandel soll ausgeweitet werden, was voraussichtlich das Fliegen und Schiffstransporte teurer macht. Eine moderne Kreislaufwirtschaft soll Müll und Verschmutzung vermeiden. Geplant sind zudem neue Strategien für saubere Luft und sauberes Wasser und einen Schutz der Artenvielfalt, eine Anpassung der Landwirtschaftspolitik und eine massive Aufforstung.
Noch sind nicht alle EU-Staaten einverstanden. Namentlich in Polen, Ungarn und Tschechien wehrt man sich gegen eine Festlegung ohne konkrete Zusagen für finanzielle Hilfen. Aus dem Europäischen Parlament dagegen wurde breite Zustimmung signalsiert.
Dem Bundesverband der Deutschen Industrie gehen die Pläne zu weit. Die ständige Verschärfung der Klimaziele führe zu einer Verunsicherung der Konsumenten und Unternehmen, sagte BDI-Präsident Dieter Kempf; dies sei „Gift für langlebige Investitionen“.
Ein Europa, das für das digitale Zeitalter gerüstet ist
Ein neues Gesetz soll den Binnenmarkt für digitale Dienstleistungen stärken und kleineren Unternehmen zu Rechtsklarheit und gleichen Wettbewerbsbedingungen verhelfen. Im Mittelpunkt stehe der Schutz der Bürgerinnen und Bürger, ihrer Rechte und die Freiheit der Meinungsäußerung. Digitalisierung und Cybersicherheit seien zwei Seiten derselben Medaille.
Im Interesse der führenden Rolle und strategischen Autonomie Europas im digitalen Bereich müssen unsere Industrie- und Innovationskapazitäten gestärkt werden. Dazu will die Kommission eine umfassende neue Industriestrategie für Europa vorschlagen, die den ökologischen und den digitalen Wandel unterstützt und für fairen Wettbewerb sorgt.
Angekündigt wird ferner ein Weißbuch über künstliche Intelligenz, um deren Entwicklung und Nutzung zu unterstützen und die uneingeschränkte Achtung der europäischen Werte und Grundrechte sicherzustellen.
Eine Wirtschaft im Dienste der Menschen
Die Vorschläge zu diesem Bereich sind naturgemäß geprägt von einem Optimismus, der von der heraufziehenden Corona-Krise noch unbeeinflusst war. Zutreffend bleibt, dass Europa über eine einzigartige soziale Marktwirtschaft verfügt, die es uns ermöglicht, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum miteinander zu verbinden. Wahr ist auch, dass seit der Staatsschuldenkrise deutliche Fortschritte bei der Stärkung sowohl des einheitlichen Währungsraums als auch der Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion erzielt worden sind, dass wir aber noch nicht am Ziel sind. Die sich abzeichnenden Rezessionsszenarien in den von Corona heimgesuchten Mitgliedstaaten lassen nun die engagierten Pläne der Kommission wie Szenarien aus vergangenen Tagen erscheinen.
Ein stärkeres Europa in der Welt
Kaum in ihr Brüsseler Büro eingezogen, setzte sich Ursula von der Leyen im Dezember 2020 in den Flieger nach Addis Abeba/Äthiopien. Es ist hoch symbolisch, dass sie den afrikanischen Kontinent als Ziel für ihre erste offizielle Reise außerhalb Europas wählte. Die Botschaft ist klar: Der EU ist Afrika wichtig.
Denn Asien holt auf; China ist zweitwichtigster Handelspartner Afrikas. Mit keinem anderen Teil der Welt aber unterhält Afrika derart enge und vielfältige Beziehungen wie mit Europa. Die EU ist der wichtigste externe Handelspartner der 2002 gegründeten Afrikanischen Union (AU), die mit 55 Mitgliedern den gesamten Kontinent umfasst.
Die Kommission will „eine neue umfassende Strategie für Afrika ausarbeiten, um die Wirtschaftsbeziehungen zu fördern, Arbeitsplätze auf beiden Kontinenten zu schaffen und die Partnerschaft in allen Bereichen zu vertiefen“. Parallel dazu stehen Verhandlungen an, um das kürzlich ausgelaufende Cotonou-Abkommen zwischen der EU und den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks, den sogenannten AKP-Staaten‚ zu ersetzen.
Aber nicht nur in die Ferne will man schweifen. Auch ihre Partnerschaft mit den westlichen Balkanstaaten will die EU vertiefen. Das Arbeitsprogramm spricht sogar von einer „glaubwürdigen Beitrittsperspektive für die Region“. Konkret wird man auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien drängen.
Und die Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn kommentiert die Kommission vollmundig, sich selbst auf die Schulter klopfend, sie habe „einen gemeinsamen Raum der Demokratie, des Wohlstands, der Stabilität und der verstärkten Zusammenarbeit geschaffen“. Dass man hier, ohne eine Abstimmung mit Russland zu suchen, tief in den ökonomischen und geostrategischen Einflussbereich dieses Landes eingedrungen ist, bleibt ebenso unerwähnt wie die Verwerfungen, die man mit diesem unbegreiflichen Vorgehen in den Beziehungen zu Russland ausgelöst hat. Offen bleibt auch, wie lange man diesen sechs Partnern – Armenien, Asebaidschan, Georgien, Moldau, Weißrussland und der Ukraine –jedwede Beirittsperspektive verweigern kann, ohne dass sich dort Frusteffekte einstellen.
Förderung unserer europäischen Lebensweise
Auch hier sind die Pläne von der Corona-Krise geradezu überrollt worden. Natürlich geht es um ein „Europa, in dem wir miteinander Lösungen für gemeinsame Herausforderungen finden“ sollten. Gerade der wesentlich von nationalen Maßnahmen geprägte Kampf gegen das Virus hat einmal mehr gezeigt, wie sehr die Nationen in solchen Katastrophensituationen auf sich selbst gestellt sind. Und wenn die Kommission eine „Arzneimittelstrategie“ für Europa anstrebt, „um weiterhin die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln sicherzustellen und die globale Wettbewerbsfähigkeit des Sektors zu festigen“, so wäre es aus heutiger Sicht vorrangig geboten, die Abhängigkeit gerade von Importen medizinisch überlebensnotwendiger Güter aus fernen Ländern so rasch wie möglich zu beenden.
Natürlich gehört auch die Bildung zur europäischen Lebensweise. Man sei entschlossen, den „europäischen Bildungsraum“ bis 2025 zu verwirklichen, alle Altersklassen einzubeziehen und eine neue europäische Agenda für Kompetenzen vorlegen; man will Qualifikationsdefizite beseitigen und Umschulungsmaßnahmen unterstützen.
Zum ungelösten Thema „Flucht und Migration“ will man das Mandat von Europol ausbauen, um die polizeiliche Zusammenarbeit zu verstärken. Die Darstellung aber, die EU habe seit ihrer Europäischen Migrationsagenda von 2015 „in den Bereichen Migration und Grenzen große Fortschritte erzielt“, grenzt an Schönfärberei. Die Kommission konnte nicht wissen, dass vier Wochen später der türkische Präsident das Flüchtlingsabkommen mit der EU von 2016 aufkündigen und seit Ende Februar 2020 Zehntausende in der Türkei prinzipiell vor dem syrischen Bürgerkrieg sichere Flüchtlinge ungehindert zur griechischen Grenze ziehen lassen würde. Es war die griechische Regierung, die eine drohende neue Einwanderungswelle entschlossen abwehrte – und dies auf allein nationaler Basis.
Immerhin kündigt die Kommission einen „neuen Migrations-und Asylpakt“ an. Sie werde „ein robusteres, humaneres und wirksameres Migrations-und Asylsystem schaffen“, das auch das Vertrauen in den Schengen-Raum mit freiem Personenverkehr stärken werde. Was seit 25 Jahren nicht gelang – es soll jetzt gelingen? Und was „robust“ bedeutet, bleibt ebenfalls ungesagt.
Neuer Schwung für die Demokratie in Europa
Mit einem „Europäischen Aktionsplan für Demokratie“ will die Kommission gegen Desinformation vorgehen, auf sich verändernde Bedrohungen und Manipulationen reagieren sowie freie und unabhängige Medien unterstützen.
Die Enwicklung in Ungarn, wo aus Anlass der Bekämpfung der Corona-Pandemie das parlamentarische System außer Kraft gesetzt wurde, hat die Kommision nicht voraussehen können. Aber es passt, wenn sie ankündigt, im Rahmen eines neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ihren ersten jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit ausarbeiten zu wollen, in dem auf alle Mitgliedstaaten eingegangen werde, um die „Rechtsstaatlichkeitskultur“ in der EU zu stärken. Ob sich Victor Orban hiervon beeindrucken lässt, bleibt anzuwarten.
Fazit
Viele weitere im Arbeitsprogramm genannte Initiativen müssen hier unerwähnt bleiben. An Themen mangelt es nicht. Auch der am 31. Januar 2020 vollzogene „Brexit“ wird den verbliebenen 27 EU-Staaten noch viel Arbeit bereiten. Die Kommission spricht von einer „beispiellosen Herausforderung“. „Wir sind diesbezüglich bereit zu einer weit über den Handel hinausgehenden Partnerschaft bisher ungekannten Umfangs.“ Hoffentlich wissen die Briten die ausgestreckte Hand zu schätzen.