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"Bis heute wird die Stimme des Ostens unterschätzt"

Karl-Heinz Daehre 2020 in seinem Arbeitszimmer in Langenwerddingen. Foto: mdw/Wannewitz

Der ehemalige CDU-Landesvorsitzende Karl-Heinz Daehre erlebte Helmut Kohl bei besonderen Begegnungen

Karl-Heinz Daehre, heute ist er 75 Jahre alt, gehört in Sachsen-Anhalt zu den Pionieren der deutschen Einheit und des CDU-Landesverbandes. Vor allem machte er sich zu seinen aktiven Zeiten in der Politik deutschlandweit einen Namen, weil er von Anfang an den Neuaufbau des Landes Sachsen-Anhalt maßgeblich mitbestimmte und später als „Vater der Autobahn 14“ in die Annalen der Geschichte einging.

„Ich habe als Landesvorsitzender der CDU Sachsen-Anhalt, aber auch schon vorher als Bauminister, Helmut Kohl Anfang der 90er Jahre, als ich Sprecher der ostdeutschen Bauminister war, persönlich kennengelernt. Da hatte man auch das eine oder andere im Kanzleramt zu besprechen, die Probleme, die wir damals hatten mit den Mieten und dem Wohnungsmangel. Etwas, was man sich heute kaum noch vorstellen kann. Da habe ich mit Helmut Kohl, natürlich voller Ehrfurcht, zusammen gesessen. Eine Sache wurde zur bleibenden Erinnerung: Er hat gesagt, ihr müsst mal die Arme hochkrempeln, wie wir das 1945 gemacht haben. Als er mir nun das zweite Mal vorgeschlagen hatte, das so zu machen, erwiderte ich: Herr Bundeskanzler, also unsere Elterngeneration im Osten hat 1945 auch die Arme hochgekrempelt, und ich weiß noch, wie die Mütter in Magdeburg dagesessen und Steine geklopft haben. 1990 war eine völlig andere Situation. Wir mussten einen Markt mit erobern, der schon komplett da war. Und 17 Millionen Ostdeutsche hätten ohne Probleme vom Westen her ausgestattet werden können. Mit allen Möglichkeiten – von Lebensmitteln bis hin zum Auto. Es gab nur eine Möglichkeit, nämlich mit Lohndumping zu arbeiten. Dass wir also weniger bezahlt haben, um überhaupt wettbewerbsfähig zu sein. Dass das alles funktioniert hat, ist schon eine starke Leistung.“ Karl-Heinz Daehre ging davon aus, dass das Kohl „auch verinnerlicht hatte, denn eines muss man ihm lassen: Er hat zwar Kritik nicht so richtig gemocht, aber man merkte an späteren Reaktionen, dass es doch bei ihm angekommen war“.

Daehre erlebte als CDU-Politiker auch aktiv die erste große Regierungskrise in Sachsen-Anhalt im November 1993 mit. „Die FDP ist auf uns zugekommen, vorgezogene Neuwahlen im Juni 1994 zu machen. Da rief Kohl mich an und fragte mich, ob wir von allen guten Geistern verlassen wären, den Wahltermin vorzuziehen. Da habe ich ihm erläutert, wie es dazu kam, dass die FDP das verlangt hat. Daraufhin hat Kohl alle Beteiligten ins Bundeskanzleramt eingeladen. Ich fuhr mit Christoph Bergner nach Bonn. Von der FDP waren Genscher und Kinkel dabei. Die Bonner FDP hatte sich bei Kohl beschwert, wieso die vorgezogenen Wahlen in Sachsen-Anhalt zustande kommen sollten. Dann hat Kohl mir das Wort gegeben; ich habe gesagt, dass dies der Wille der FDP in Sachsen-Anhalt war. Die FDP-Bundesspitze zog sich zurück, hat der Sachsen-Anhalt FDP die Ohren lang gezogen. Da war schon was angedacht. Frau Schwaetzer und Möllemann wollten in Sachsen-Anhalt eine sozial-liberale Koalition SPD/FDP testen. Das Fatale ist, wir als CDU haben bei der Landtagswahl 1994 dann 35 Prozent bekommen. Und bei der Bundestagswahl im Herbst 1994 haben wir als CDU das beste Ergebnis in Sachsen-Anhalt eingefahren. Da lagen wir bei knapp 40 Prozent. Wenn wir also im Oktober 1994 auch den Landtag gewählt hätten, hätten wir dieses Ergebnis auch bekommen.“

An mehrere besondere Begegnungen mit Helmut Kohl in Sachsen-Anhalt kann sich Karl-Heinz Daehre noch genau erinnern: „1994 hatten wir im Bundestagswahlkampf zwei Veranstaltungen mit ihm, eine in Dessau und eine in Lutherstadt Eisleben. Da bin ich mit ihm im Hubschrauber mitgeflogen. Wir hatten etwas Zeit; er wollte wissen, was das für ein Ort hier unten sei. Ich wusste es auch nicht. Wir sind jedenfalls runter, landeten auf dem Sportplatz. Kohl ist ausgestiegen. Kinder haben da gespielt, die müssen ihn erkannt haben. Dann sind die vorweg gerannt. Dann kommen wir um die Ecke, da rief gerade eines der Kinder zu seinem Papa: „Der Kohl ist da.“ Ja, Kohl war tatsächlich da. Er wollte einfach mit den Leuten in Kontakt treten. Für die Sicherheitsbeamten waren das natürlich immer besondere Herausforderungen.“

1997, am Rande einer Konferenz der Jungen Union in Magdeburg, auf der Kohl sprach, erlebte Karl-Heinz Daehre mit seiner Frau Elga unvergessliche Stunden mit dem Ehepaar Kohl. „Wir haben uns in Kohls Auto gesetzt. Hinten zu dritt, Frau Kohl, meine Frau und ich. Helmut Kohl vorne auf dem Beifahrersitz. Dann sind wir nach Quedlinburg gefahren und haben den Nachmittag dort verbracht. Ich habe ihn auch zum Schlossbesuch eingeladen. Er wollte die 500 Meter Fußweg auch gehen. Das schaffe ich, sagte Kohl. Doch das geht ja da richtig steil hoch. Ich merkte schon, dass Kohl pustete. Die Leute kamen da runter, und Kohl kam ohne Ankündigung an. Da waren auch Leute aus Kleinwanzleben, die kannten mich. Und die sagten: ‚Der Herr Daehre war auch dabei.‘ Das hat dem Kohl imponiert, dass die Leute nicht nur ihn, sondern auch mich erkannt haben. Also, wir gehen rein in das Schloss, und da steht eine Truhe aus dem 10. oder 11. Jahrhundert. Es stand groß drauf: Bitte nicht berühren. Was macht aber Helmut Kohl? Er setzt sich drauf. Der Museumsführer, der uns begleitete, holte tief Luft, aber es ist nichts passiert. Den Stresstest hat die Truhe bestanden. Eines muss ich sagen, es war so überzeugend, wie sich Helmut Kohl mit der mitteldeutschen Geschichte auskannte. Er ist richtig ins Plaudern gekommen. Schon auf der Fahrt nach Quedlinburg wusste Kohl über alles Bescheid, kannte die Börde, alle Achtung.“

Daehre war auch Zeuge eines Telefonates von Helmut Kohl mit dem damaligen französischen Staatspräsidenten Mitterrand geworden. „Da ging es um Leuna. Eines ist mir daraus klar geworden, ohne Helmut Kohl hätte es Leuna nicht gegeben, denn die westdeutsche Mineralölindustrie hatte überhaupt kein Interesse am Osten. Die wollten eine Pipeline, die Mitteldeutschland versorgt. Also, wenn wir Elf Aquitaine nicht bekommen hätten, dann wäre das eine Wüste geblieben. Das ist sicherlich ein Teil von den blühenden Landschaften. Darüber ist ja viel diskutiert worden. Ich kann nur eines sagen, wenn Helmut Kohl sich damals hingestellt und gesagt hätte, also, es dauert dreißig Jahre, da wäre gar keine Aufbruchstimmung entstanden. Dann kommt auch noch die Diskussion mit den 50 Milliarden. Die 50 Milliarden, die die deutsche Einheit kostet, das war das, was der Rat der fünf Waisen aufgeschrieben hatte. Die haben alle, davon bin ich heute überzeugt, die Papiere aus Ostberlin abgeschrieben, die wir auch bekommen haben, in denen es hieß, die DDR sei die siebtstärkste Industrienation. Das war eine glatte Fehleinschätzung. Wenn die uns mal gefragt hätten, wie es aussieht – auch nach der Wende. Da haben die sich mit Modrow und Berghofer unterhalten, die natürlich alle nicht die Wahrheit gesagt haben.“

Daehre glaubt, dass er bei Helmut Kohl nicht den schlechtesten Stand hatte. „Zu seinem 80. Geburtstag 2010 waren drei Stuhlreihen namentlich reserviert. Ich saß in der dritten Reihe. Ich habe mich dann mal umgedreht, wer hinten saß, wo nicht reserviert war. Das muss deshalb gesagt werden, auch mit einem gewissen Selbstwertgefühl, weil mich das Bundeskanzleramt im Herbst 1994 anrief. Helmut Kohl suchte einen Bundesminister aus dem Osten. Klaus Töpfer war damals Bundesumweltminister und wollte plötzlich Bauminister werden. Dann ist Angela Merkel Umweltministerin geworden. Dann suchte Kohl weiter und hat dann Claudia Nolte aus Thüringen als Familienministerin genommen. Dadurch war ich dann aus dem Rennen raus, aber es war für mich schon mal sehr schön, im Rennen überhaupt gewesen zu sein.“

Bundesweite Beachtung fanden die Ergebnisse der Bund/Länderarbeitsgruppe zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland,  die von Karl-Heinz Daehre geleitet wurde und seit 2013 im Sprachgebrauch als „DAEHRE KOMMISSION“ bezeichnet wird. Die Ergebnisse waren auch international von Interesse. So wurde die Arbeit auch in Japan ausgewertet und ins japanische übersetzt.

Karl-Heinz Daehre schied 2011 aus der Landesregierung aus. „Doch der Vorwurf, den ich nach wie vor mache, ist, dass wir Ostgermanen immer noch rumbetteln müssen. Bis heute wird die Stimme des Ostens unterschätzt. Das ist keine Jammerstimme. Es geht einfach darum, dass wir andere Probleme haben, die man nur verstehen kann, wenn man hier im Osten groß geworden ist.“ 


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