"Aus Dankbarkeit bin ich 1990 in die CDU eingetreten"
mdw: Herr Professor Böhmer, Sie haben zwischen 2002 und 2011 das Land Sachsen-Anhalt als Ministerpräsident regiert. Sie waren zuvor CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzender, Minister und Abgeordneter des Landtages. Sie sind Mediziner und arbeiteten bis zur politischen Wende als Chefarzt im Krankenhaus Paul Gerhardt Stift in Lutherstadt Wittenberg, wo sie bis heute wohnen. In der DDR waren Sie parteilos. Wie sind Sie zur CDU gekommen?
Professor Wolfgang Böhmer: Ich habe mich in der DDR natürlich für die gesellschaftliche Entwicklung und die Probleme, die damit zusammenhingen, interessiert. Ich hatte die Gelegenheit, gelegentlich eingeladen zu werden zu wissenschaftlichen Veranstaltungen und Vorträgen in der Schweiz, in Frankreich, in Westdeutschland. Dadurch habe ich mitbekommen, dass das Leben ganz anders sein kann, als bei uns in der DDR. Das hat mich politisch sensibilisiert, aber ich hatte den Eindruck: du kannst eh nichts bewegen.
Wir hatten in der DDR Probleme mit unserem Sohn. Der ist zweimal aus politischen Gründen exmatrikuliert worden. Ich wollte natürlich, dass er weiter studieren kann. Ich habe damals in einem evangelischen Krankenhaus in Wittenberg gearbeitet. Und da kam einmal der Vorsitzende der DDR-CDU, Gerald Götting, mit einem ganzen Stab von Mitarbeitern zu uns ins Krankenhaus zu einem Besuch. Dabei habe ich einen Mitarbeiter von ihm, den ich gar nicht kannte, der aber eine Unterhaltung mit mir suchte, von meinem Sohn erzählt. Dass er exmatrikuliert wurde, weil sie bei ihm im Spint bei der Armee abgeschriebene Gedichte gefunden hatten von einer Schriftstellerin, die nach dem Westen gegangen war. Ich fragte ihn, ob man da was machen kann. Der hat mir gesagt, die CDU ist durchaus in der Lage, etwas zu machen. Aber ich solle vorher versprechen, dass ich mit niemandem darüber spreche. Wenn sich da eine Lösung ergibt, dass die SED-Kameraden in der Nationalen Front nachgeben, darf in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck entstehen, dass die CDU das geschafft hat. „Die wollen immer recht haben. Wir dürfen nicht gegen die SED Propaganda machen.“
Nach einem Vierteljahr wurde ich zur Kreisgeschäftsstelle der CDU in Wittenberg bestellt. Da teilte man mir mit, dass man aus Halle vom Landesvorstand erfahren habe, dass die Sache mit dem Sohn vom Böhmer geklärt wird. „Aber da reden wir nicht mehr drüber.“
Das hat dazu geführt, dass ich der CDU gegenüber eine gewisse Dankbarkeit empfunden habe. Nach der Wende kamen plötzlich an einem Arbeitstag in der Woche zwei mir nicht bekannte Männer auf die Station im Krankenhaus, die wollten mich mal sprechen. Sie erzählten, sie kommen von der CDU und hätten von der ganzen Geschichte gehört und gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, mich für die CDU zu engagieren. Sie suchten Kandidaten für den Landtag, die in Wittenberg bekannt sind und die gewählt werden. Die sagten mir: „Landtag ist wie Bezirkstag in der DDR.“ Und vom Bezirkstag der DDR wusste ich, die tagen einmal im Vierteljahr nachmittags. Ich habe gesagt: Wenn’s nicht mehr ist, das kann ich auch. Dann haben die mich als Kandidaten aufgesetzt, und ich bin gewählt worden. Ich war plötzlich als Nichtmitglied der CDU Landtagskandidat. Als ich dann zur ersten Versammlung in Magdeburg war, war das ein bisschen komisch für mich. Alle kannten sich untereinander. Ich war da ein Fremdkörper. Im Laufe der Zeit habe ich dann gemerkt, man muss dazugehören, wenn man hier was bewegen will.
Ich bin dann im Frühherbst 1990 in die CDU eingetreten. Die erste Sitzung des neugewählten Landtages war in Dessau in der Kaserne. Dort wurde Gies zum Ministerpräsidenten gewählt. Es hieß, im Rathaus der Stadt gibt er einen Empfang. Da sollen wir alle hinkommen. Ich bin dann mit meinem Auto von der Kaserne in die Innenstadt gefahren und habe dort erlebt, dass plötzlich hinter mir Fahrzeuge mit Blaulicht aufkreuzten und Lichthupe und Lärm gemacht haben. Die haben mich nahezu in den Straßengraben gelenkt. Da erst habe ich mitbekommen, das war der Ministerpräsident mit seinem Begleitfahrzeug. So was haben wir noch nicht mal in der DDR erlebt. Da war ich erst mal sauer.
mdw: Nach dem Abgang von Gies, der nur ein Jahr an der Spitze der Landesregierung von Sachsen-Anhalt stand, wurden Sie unter dem neuen Regierungschef Werner Münch Minister der Finanzen und nach dessen Rücktritt 1993 im Kabinett Bergner bis 1994 Minister für Arbeit und Soziales.
Wolfgang Böhmer: 1991 in der Regierung Münch wurde ich Minister. Dass Münch dann 1993 zurückgetreten ist, hing ja mit der FDP zusammen. Der FDP-Kuhnert hatte irgendwas gegen Münch. Der hat ziemlich Stimmung gegen Münch gemacht. Da machte die FDP mal an einem Samstagnachmittag eine Parteiversammlung, an der auch der damalige Minister Rehberger teilnahm. Wir saßen Sonnabendvormittag noch in Magdeburg zusammen. Beim Parteitag der FDP dann rief Rehberger plötzlich bei Münch an und sagte, ich konnte nicht anders, ich musste zurücktreten. Das hat Münch wie ein Schlag getroffen, das sah man ihm an. Dann sagte Münch, dann trete ich auch zurück.
mdw: Nachdem die schwarz-gelbe Koalition bei der Landtagswahl 1994 ihre Mehrheit verloren hatte, schieden Sie aus der Landesregierung aus. 2002 ging dann der große Wunsch der CDU Sachsen-Anhalts in Erfüllung, wieder den Regierungschef stellen zu können. Sie wurden Ministerpräsident und blieben bis 2011 im Amt.
Wolfgang Böhmer: Mein Wahlplakat, mit dem ich 2002 die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gewonnen hatte, stand unter dem Motto: „Wir werden das Kind schon schaukeln“. Wir haben dann eine CDU/FDP-Koalition gemacht. Das war auch notwendig wegen der Mehrheitsverhältnisse im Landtag. Ministerpräsident Höppner ist 2002 mit seiner SPD abgewählt worden. Das war eine sehr faire Amtsübergabe. Er stand mit großem Blumenstrauß in der Staatskanzlei und hat mich empfangen.
Wir haben in unserer Amtszeit andere Schwerpunkte gesetzt, beispielsweise, was die Ausgaben betrifft. Weniger in den Sozialbereich, mehr in Investitionsförderung gesteckt, damit Arbeitsplätze entstehen. Es war ja so, wer aus dem Westen in den Osten kam, der wusste, es gibt Fördermittel. Und ohne Fördermittel brauchte man gar nicht erst mit diesen Leuten zu reden. Die waren angefüttert. Bis zu einem gewissen Grade war das auch verständlich. Denn die haben auch Aufgaben übernommen, die sie nicht übernehmen bräuchten. Ein Beispiel: Dass Bayer, der weltweite Chemiekonzern, nach Bitterfeld kam, hing damit zusammen, dass ich ihm versprochen habe, wenn ihr zu uns kommt, müsst ihr nicht den Boden entseuchen. In Bitterfeld war ja der Boden bis zwei Meter Tiefe mit Chemiekalien verseucht. Wir haben gesagt, das ist nicht eure Schuld, das müssen wir machen. Dafür bekommen wir auch Hilfsmittel vom Bund. Und auf diese Weise sind wir uns mit denen einig geworden.
Ohne Bundeskanzler Kohl wäre das aber nicht gelaufen. Bayer hatte damals ein fertiges Projekt. Die wollten in Spanien bauen. Die Tabletten, die jetzt in Bitterfeld produziert werden, sollten in Spanien produziert werden. Kohl kannte ein bis zwei Leute aus dem Vorstand der Bayer AG. Er hat die angerufen und gesagt, ihr könnt uns mit dem Osten nicht im Stich lassen. Und das haben die gemacht. Und zwar nicht wegen Bitterfeld, sondern wegen Kohl. Und weil Bayer in den Osten ging, haben andere Unternehmen nachgezogen und gefragt, wie haben die das gepackt. Das hat uns schon geholfen.
mdw: Als langjähriger Mediziner kannten und kennen Sie das Gesundheitswesen der DDR genau. Sie galten auch im wiedervereinigten Deutschland lange Jahre als Verfechter der Polikliniken.
Wolfgang Böhmer: Die Polikliniken in der DDR waren Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens. Der Träger war entweder eine Gemeinde oder ein Krankenhaus. Polikliniken waren keine privatrechtlichen Unternehmen. Die niedergelassenen Ärzte sind ja heute alle Unternehmer. Die Ärzte in den DDR-Polikliniken waren Angestellte des Staates in einem staatlich organisierten Gesundheitswesen. Das hatte die Vorteile, dass verschiedene Fachbereiche in einer Einrichtung konzentriert waren. Das hatte natürlich den Nachteil, dass die Ärzte Angestellte waren und nicht freiberuflich tätig, obwohl das für die medizinische Behandlung der Patienten keine so großen Auswirkungen hatte.
Ich war im August 2004, da war ich schon Ministerpräsident, bei der damaligen Gesundheitsministerin Schmidt in einem Arbeitskreis. Da ging es darum, ein GKV-Gesetz zu machen. Ich war einer der wenigen Regierungschefs, die von Medizin Ahnung haben. Deswegen bin ich dort eingeladen worden. Das Anliegen dieses Gesetzes war, die ambulanten Behandlungsstrukturen zu verbessern. Da habe ich den Vorschlag gemacht, wir müssen wieder die Ärzte zusammen bündeln. Die müssen nicht unbedingt alle wirtschaftlich selbständig sein. Auch im ambulanten Bereich müssen die Ärzte im Angestelltenverhältnis tätig sein können. Zumal sich immer mehr Frauen niederlassen. Und die meisten Frauen wollen sich nicht mit mehreren hunderttausend Euro Schulden niederlassen.
Ich bin daraufhin massiv beschimpft worden, ich würde das sozialistische Gesundheitswesen wieder einführen wollen. Diese Kritik kam nicht von der Schmidt. Die Schmidt war aufgeschlossen. Dagegen waren die Kollegen aus Bayern und aus Baden-Württemberg. Der Bruder des damaligen Gesundheitsministers aus Baden-Württemberg war ein Apotheker. Als wir dann gesagt haben, es müssen ja nicht nur Ärzte eine solche Poliklinik bilden, das können ja auch Apotheker machen, die haben mehr Geld als Ärzte, da war er plötzlich auch dafür. Das fand ich lustig. Da hatte ich einen weniger, der mir was vorgeworfen hat.
In einer der Beratungspausen kam einmal ein Mitarbeiter der Ministerin Schmidt zu mir und fragte mich, warum ich immer auf dem Gedanken der Poliklinik reite. „Sie merken doch, es ist ein Reizwort.“ Ich habe dann um Vorschläge gebeten, wie man es besser nennen könnte. Am nächsten Tag hieß es, wir nennen das medizinisches Versorgungszentrum. Plötzlich waren alle dafür. Dieser Gedanke hat sich ganz schnell verbreitet und ist angenommen worden. Mittlerweile haben die Bayern die meisten medizinischen Versorgungszentren. Es gibt viele Gemeinsamkeiten mit unseren früheren Polikliniken.
mdw: Nun wird die Welt und insbesondere auch Deutschland derzeit von einer noch nie dagewesen Viren-Krankheit heimgesucht. Corona ist ein Virus, das keiner kennt und deswegen nicht so leicht zu besiegen ist. Wird derzeit zu viel oder noch zu wenig getan, um die neue Seuche einzudämmen?
Wolfgang Böhmer: Zu viel des Guten gibt es bei einer solchen Infektion nicht. Das muss man ganz nüchtern sagen. Die Viren sind ja viel kleiner als Bakterien. Die rutschen überall durch. Wenn man eine Vireninfektion bekämpfen will, geht das nur mit sehr stringenten Maßnahmen. Was ich so mitbekomme, ist sachlich notwendig und richtig. Dass das aus Ängstlichkeit auch übertrieben werden kann, wird es immer geben. Wenn man nun sagt, man müsse Fußballspiele verbieten, dann müssten sie auch jeden Tanzabend verbieten. Dann müssten sie alles, wo Menschen zusammen kommen, verbieten, was auch zum Teil gemacht wird.
Die Viren werden durch Tröpfcheninfektion übertragen, und da hilft nur strenge Isolierung. Das ist nicht neu. Wir hatten ja im ausgehenden Mittelalter die Pockenepidemien. Wenn jemand die Pocken hatte, dann schickte der Bürgermeister zwei, drei Männer und hat dieses Haus, wo die Pocken-Patienten wohnten, zubauen lassen. Da wurden die Fernster und die Türen zugemauert. Das war die einzige Möglichkeit, die Leute zu isolieren und die Seuche einzudämmen. Und wer sich vor den Pocken schützen wollte, musste ausziehen. Die Wittenberger sind mehrfach ausgezogen, weil in Wittenberg die Pocken aufgetreten waren. Das heißt, das war schon damals klar, dass nur eine sehr stringente Isolierung die Ausbreitung einer Infektion verhindern kann. Und Pocken sind immerhin Bakterien, die sind leichter zu bekämpfen als Viren. Weil die so klein und so widerstandsfähig sind. Die Viren haben einen Stoffwechsel, der durch Trockenheit eingestellt werden kann. Dann leben sie trotzdem weiter. Das geht mit Bakterien nicht. Was jetzt passiert, sind aus meiner Sicht notwendige Maßnahmen, wenn man die Seuche begrenzen will. Das ist eine neue Sorte von Viren, die viel mit den Grippe-Viren gemeinsam haben. Die Leute sterben ja auch selten an der Infektion, sondern an den Folgeerscheinungen, etwa an der Atemnot aufgrund des Lungenödems oder an einer Infektion des Herzens.
mdw: Gerade haben wir in Thüringen erlebt, wie die Alternative für Deutschland (AfD) ein ganzes Land politisch in Atem halten und für ihre Interessen missbrauchen kann. Im kommenden Jahr sind in Sachsen-Anhalt wieder Landtagswahlen. Befürchten Sie eine Wiederholung der Erfurter Vorkommnisse?
Wolfgang Böhmer: Die AfD ist keine Partei, der ein Wähler die Verantwortung für die Zukunft in Sachsen-Anhalt übertragen sollte. Davon bin ich ganz überzeugt. Die Argumentation, auch die Wortwahl, erinnert mich sehr an „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Das ist eine Partei, die auf Zwietracht und Hass unter den Völkern aus ist. Das hat die gar nicht nötig, aber das ist eben ein Spezifikum geworden. Deswegen bin ich der Meinung, die AfD muss man bekämpfen. Aber nicht, in dem man sie ignoriert. Ich kenne keinen Wähler, der sagt, ich werde die AfD nicht wieder wählen, weil die CDU nicht mit denen redet. Man muss die AfD inhaltlich widerlegen und ihnen klarmachen, dass sie Ziele verfolgt, die so nicht zumutbar sind für ein gedeihliches Zusammenleben der Bevölkerung.
Das ist auch das, was wir bei der Linken falsch gemacht haben. Wir haben monatelang die Linken im Landtag ignoriert. Wenn die einen Vorschlag gemacht haben, waren wir dagegen, egal, obwohl wir heimlich gesagt haben, eigentlich ist der gar nicht so dumm. Jetzt läuft das ähnlich mit der AfD. Ich bin der Meinung, damit kriegt man eine Partei, so unsinnig sie auch sein mag, nicht klein. Man muss einfach ihre Argumente aufnehmen und sie widerlegen. Das überzeugt die Wähler, wenn man Glück hat. Aber die Wähler überzeugt es nicht, wenn wir beleidigte Partner spielen.
Ramelow ist kein typischer Linken-Politiker, sondern im Grunde genommen ein gut bürgerlicher Politiker mit menschlichen Werten, die man gar nicht erwartet hätte bei ihm. Ich hätte keinen Grund, Ramelow zu diffamieren. Wenn man mit ihm ein Problem lösen will, muss man mit ihm reden. Ich bin auch der Meinung, mit der AfD werden wir reden müssen und sagen, Kameraden, so geht es nicht.
Das Gespräch führte mdw-Chefredakteur André Wannewitz