"Wir erwarten von der EU eine konsequente Haltung gegenüber den Verbrechen, die mit dem Konflikt Berg-Karabach einhergehen"
mdw: Herr Botschafter, Sie sind seit nunmehr fünf Jahren der Vetreter Ihres Landes in Deutschland. Haben Sie den Eindruck, dass man hierzulande genug über Armenien weiß?
Ashot Smbatyan: Nach der Unabhängigkeit Armeniens im Jahr 1991 war die Bundesrepublik Deutschland eines der ersten Länder, das die Republik Armenien anerkannt und diplomatische Beziehungen aufgenommen hat. Diese Beziehungen haben sich bis heute dynamisch weiterentwickelt. Insbesondere seit der Verabschiedung der Armenien-Resolution zur Anerkennung des Genozids durch den Deutschen Bundestag im Juni 2016 ist mein Land vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.
Zunehmend wird hierzulande wahrgenommen, dass Armenien viel zu bieten hat. Die armenische Kultur ist eine der ältesten weltweit. Schon im Jahr 301 n. Chr. haben die Armenier als erstes Land der Welt das Christentum zur Staatsreligion erklärt. Die armenische Schriftsprache wurde bereits Anfang des 5. Jahrhunderts entwickelt und findet noch heute Verwendung. Gastfreundschaft wird in Armenien großgeschrieben. Der kontinuierlich wachsende Tourismus-Sektor bietet internationalem Publikum eine Vielzahl von Möglichkeiten, darunter Besichtigungen historischer Kloster-Anlagen, Wein-Touren oder Sportaktivitäten. Auch in Deutschland findet dieses Angebot Anklang, insbesondere in den letzten Jahren. Die Zahl der deutschen Touristen ist im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 40 Prozent gewachsen.
Die IT-Industrie nimmt im Wirtschaftsleben einen immer breiteren Raum ein. Insbesondere junge Leute werden an moderne Technologien und deren Entwicklung herangeführt. Nach armenischem Vorbild wird Ende des Jahres in Berlin-Wilmersdorf ein hochmodernes Bildungszentrum für Jugendliche (TUMO Center for Creative Technologies) eröffnen. Junge Leute können sich hier kostenlos in den Bereichen Technologie und Design weiterbilden. Projekte und Kooperationen wie diese tragen dazu bei, ein modernes Armenienbild zu vermitteln.
Die Zeit, in der mein Land nur über die „Fragen an den Sender Jerewan“ definiert wurde, gehört meines Erachtens der Vergangenheit an.
mdw: Deutschland hat in diesem zweiten Halbjahr 2020 die EU-Ratspräsidentschaft inne. Im Vorfeld war zu hören, dass die Östliche Partnerschaft in dieser Zeit ein wichtiges Thema sein soll. Hat sich diese Erwartung erfüllt?
Ashot Smbatyan: Die Zusammenarbeit Armeniens mit der Europäischen Union im Rahmen der Östlichen Partnerschaft war und ist erfolgreich. Mit Hilfe der Europäischen Union wurden die Bereiche Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit in Armenien weiter gefördert. Junge Menschen aus Armenien und Europa vernetzen sich u. a. durch Bildungsinitiativen, Hochschulpartnerschaften und die Zusammenarbeit im Wissenschaftsbereich. Nichtregierungsorganisationen stärken die Verbindungen der Zivilgesellschaften.
2020 war und ist ein ungewöhnliches Jahr. COVID-19 hält uns noch immer fest im Griff. Das Virus beeinträchtigt das gesellschaftliche Miteinander und die politische Arbeit. Das hat auch Auswirkungen auf die gemeinsamen Projekte der Östlichen Partnerschaft.
Durch die aserbaidschanische Aggression seit Ende September können die Kapazitäten der Zusammenarbeit nicht vollständig genutzt werden. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen: Für Armenien und Berg-Karabach ist Frieden in unserer Region eine notwendige Voraussetzung, um diese Projekte in Zukunft durchführen zu können.
mdw: Sind Sie enttäuscht über die Haltung – oder sollte man sagen: Zurückhaltung – der EU gegenüber den erschreckenden Auseinandersetzungen um die Region Berg-Karabach?
Ashot Smbatyan: Seit Beginn der Aggression seitens Aserbaidschan gegen die Bevölkerung von Berg-Karabach erfolgten Erklärungen der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der Ko-Vorsitzenden Länder der OSZE-Minsk-Gruppe, die die Anwendung von Gewalt und die Störung des regionalen Friedens und der Sicherheit eindeutig verurteilen. Diese Eskalation von Gewalt kann unberechenbare Auswirkungen, nicht nur für die gesamte Südkaukasus-Region, sondern auch für ganz Europa zur Folge haben.
Deswegen erwarten wir von der Europäischen Union eine klare und konsequente Haltung gegenüber den Menschenrechtsverbrechen, die mit diesem Konflikt einhergehen. Seit Beginn der Offensive wurden gezielt Zivilisten und zivile Infrastrukturen, darunter Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser, Ziel der aserbaidschanischen Streitkräfte. Selbst Kassettenbomben, die völkerrechtlich verboten sind, wurden und werden weiterhin im Kampf gegen die Zivilbevölkerung von Berg-Karabach eingesetzt. Die Türkei unterstützt Aserbaidschan offiziell mit allen Mitteln.
Hier sehe ich einen Ansatzpunkt für die mit uns befreundeten Nationen. Die internationale Gemeinschaft muss sich offensiver und klarer in ihren Aussagen positionieren und auch die Werte, denen sie sich verpflichtet fühlt, konsequent schützen. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Werte zu einer Heuchelei verkommen und dass mit zweierlei Maß gemessen wird.
Denn Demokratie, Freiheit und Menschenrechte gelten auch für die Bevölkerung von Berg-Karabach.
Angesichts der hochtechnologisierten Kriegsführung ist ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen unabdingbar. Und ich sehe in diesem Zusammenhang auch eine Verantwortung der NATO, deren Mitglied die Türkei ist.
mdw: Wünschen Sie sich seitens des Westens eine klarere Haltung gegenüber der Türkei, die ganz offensichtlich die aserbaidschanische Seite militärisch und logistisch massiv unterstützt?
Ashot Smbatyan: Als der türkische Außenminister zu Beginn der Aggression erklärte, die Türkei werde bei einem Hilfegesuch Aserbaidschans „tun was notwendig ist“, hätte eine Reaktion des Westens erfolgen müssen. Aber spätestens, als Aserbaidschan das Kommando seiner Offensivoperationen an die türkischen Luftstreitkräfte übergab, hätte die NATO-Führung Position beziehen müssen. Aber nichts geschah. Man schaut zu, wenn für jedermann erkennbar F-16-Kampfflugzeuge sowie moderne Drohnentechnik türkischen Fabrikats zum Einsatz kommen, oder wenn Söldner und Terroristen nachweislich von der Türkei zur Unterstützung Aserbaidschans rekrutiert wurden.
Dabei gehen die neo-osmanischen Ambitionen Erdogans über Berg-Karabach hinaus. Beispielhaft führe ich hier das Vorgehen der Türkei im Mittelmeerraum, in Libyen, im Irak und in Syrien an.
Offensichtlich ist die Türkei nach 100 Jahren in die Region Südkaukasus zurückgekehrt, um den Genozid an den Armeniern fortzusetzen, der 1915 im Osmanischen Reich stattfand. Dies ist nicht nur eine Manifestation des historischen Hasses auf die Armenier. Die Armenier im Südkaukasus sind das letzte Hindernis für die Expansion der Türkei in Richtung Südosten und Osten.
Das Verhalten und insbesondere die Kriegsbeteiligung des NATO-Mitglieds Türkei ist brandgefährlich und kann katastrophale Folgen über die Südkaukasusregion hinaus entfalten.
Gerade deshalb appellieren wir an die zivilisierte Welt, die Kriegshandlungen der Türkei in Berg-Karabach und in Armenien auf das Schärfste zu verurteilen und einen erneuten Genozid zu verhindern. Es hilft nicht, in der Zukunft die Opfer zu beklagen. Es muss jetzt reagiert werden.
Wir alle sollten uns fragen: Dürfen wir zulassen, dass sich Geschichte wiederholt?
„Aufarbeitung der Geschichte“, „Lehren aus der Geschichte ziehen und sie der jungen Generation vermitteln“ – sind das nur Sätze aus Sonntagsreden an Feier- und Gedenktagen? Der Wissensvermittlung über aktuelle Ungerechtigkeiten muss das größte Augenmerk geschenkt werden. Und dazu gehört auch die Vermittlung der Geschichte des gegenwärtig geführten barbarischen Krieges im Südkaukasus.
mdw: Armenien ist an einer engeren Beziehung zur EU interessiert. Andererseits zeigt der aktuelle Konflikt, dass auch Russland für Ihr Land ein wichtiger Nachbar ist.
Ashot Smbatyan: Durch seine geografische Lage im Südkaukasus befindet sich Armenien an der Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident. Die armenische Außenpolitik basiert auf dem Prinzip des „sowohl als auch“. Das bedeutet, dass Armenien seine historisch guten und auch strategischen Beziehungen zu Russland mit einer Annäherung an die Europäische Union verbindet. Armenien ist Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion, gleichzeitig wurde ein Abkommen über eine umfassende und verstärkte Partnerschaft („CEPA“) mit der EU verabschiedet. Diese Verbindung ist weltweit einzigartig.
Der aktuelle Konflikt spielt sich in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU und Russlands ab. In die friedliche Konfliktlösung sind beide Akteure im Rahmen der Minsk-Gruppe der OSZE - das einzige Format, das das internationale Vermittlungsmandat für den Berg-Karabach Konflikt inne hat - eingebunden.
Der türkische Staatspräsident spielt hier eine besonders negative Rolle. Er schreckt nicht davor zurück, den französischen Präsidenten zu attackieren und zu beleidigen, als Frankreich als eines der KO-Vorsitzenden Länder der OSZE-Minsk-Gruppe die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen forderte.
Die Türkei, das Mitglied der Minsker Gruppe der OSZE ist, sollte mit sofortiger Wirkung ausgeschlossen werden. Wie kann jemand vermittelnd wirken, der selbst an den Kriegshandlungen beteiligt ist?
Wie Sie sicher wissen, ist es am 11. Oktober 2020 auf Verhandlungsinitiative des russischen Außenministers Lawrow gelungen, einen humanitären Waffenstillstand auszuhandeln. Die später folgenden französischen und amerikanischen Verhandlungsinitiativen über einen humanitären Waffenstillstand wurden bereits mehrfach durch die aserbaidschanische Seite gebrochen. Weiterhin sterben täglich auch unschuldige Zivilisten in Berg-Karabach. Für den Vermittlungsprozess wünschen wir uns von unseren Partnern, ihre konstruktive Zusammenarbeit im Rahmen der Minsk-Gruppe gemeinsam fortzuführen, um diesem sinnlosen Morden ein Ende zu setzen.
mdw: Halten Sie es nicht für ein Gebot unserer Zeit, eine Verständigung zwischen der EU und Russland voranzubringen? Würden nicht Länder wie Armenien von einer Entspannung profitieren?
Ashot Smbatyan: Ja, ich stimme Ihnen zu: Das Gebot unserer Zeit muss Verständigung heißen!
Wir haben nur diese eine Welt.
Wir leben im 21. Jahrhundert, in einer globalisierten Welt. Die Vernetzung fast aller Lebensbereiche nimmt von Tag zu Tag zu.
Das ist die eine Seite der Medaille. Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille.
Als Beispiel möchte ich das Verhängen von Sanktionen nennen.
Oftmals mutet es schon fast lächerlich an: die UN verhängt Sanktionen, die EU verhängt Sanktionen. Länder sanktionieren sich gegenseitig u. a. in Bezug auf Handelsaktivitäten, Personenreiseverkehre.
Nur – welchen Nutzen haben diese, und wer hält sich daran, ganz egal worum es sich handelt – Einhaltung der Menschenrechte (Türkei, Saudi-Arabien, Belarus), Waffenexporte (hier spielt gerade Deutschland eine unrühmliche Rolle), Rechtsstaatlichkeit (Polen, Ungarn). Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.
Aber schon hier sollte das Gebot der Verständigung untereinander einsetzen.
Wenn der von der Präsidentin der Europäischen Kommission verkündete Europäische „GREEN DEAL“ Realität werden soll – und hier sehe ich den gesamten europäischen Kontinent in der Pflicht – muss auch Russland mit einbezogen werden. Ohne die Beteiligung Russlands lässt sich kaum ein internationales Problem lösen. Und ich behaupte, es wird uns gelingen. Ein Beispiel möchte ich dafür anführen. Seit nunmehr 20 Jahren gibt es die internationale Zusammenarbeit in der Weltraumstation ISS. Viele Länder nutzten bereits die Möglichkeit für wissenschaftlich-technische Forschung, ihre Astronauten bzw. Kosmonauten dorthin zu entsenden. Warum gelingt hoch über uns, im Weltraum, die friedliche Zusammenarbeit der Völker? Und warum tun wir uns so schwer bei der Beilegung von Konflikten auf dieser Erde? Sollten wir nicht die Interessen und Ansprüche, auch die eigenen, mehr hinterfragen, um so einen internationalen Entspannungsprozess einzuleiten?
Wir sollten mehr das Verbindende fördern und nicht immer das Trennende in den Mittelpunkt stellen.
Auch ein kleines Land hat das Recht auf Anerkennung der territorialen Integrität und die Selbstbestimmung seiner Bevölkerung.
Wir verurteilen auf das Schärfste die Aggression Aserbaidschans gegenüber der Bevölkerung von Berg-Karabach. Wir werden die Sicherheit der Bevölkerung in Berg-Karabach gewährleisten und angemessen auf diese Aggression reagieren. Große Sorgen bereitet uns, wie gesagt, die Haltung der Türkei, die schon seit geraumer Zeit Aserbaidschan militärisch unterstützt.
Wir appellieren an alle demokratischen Kräfte, sich dafür einzusetzen, dass dieser Aggression vor Europas Haustür Einhalt geboten wird. Die Bevölkerung von Berg-Karabach will ihr Recht auf ein Leben in Freiheit nicht in die Hände einer Diktatur legen. Wir sind alle gefordert, sie dabei zu unterstützen!
mdw: Wie sehen Sie die Situation für Ihr Land nach der Vereinbarung, die am 9. November 2020 in Moskau von Russland, Aserbaidschan und Armenien unterzeichnet wurde?
Ashot Smbatyan: Für mich hat Priorität, dass der schreckliche Krieg, das sinnlose Blutvergießen beendet wurde. Allerdings politisch ist der Status der Region Bergkarabach noch nicht geklärt, eine Vertreibung der Armenier von dort noch nicht abgewendet. Aber russische Friedenssoldaten stehen bereit, die gegenwärtig einen Korridor zu den Armeniern in Berg-Karabach und die Frontlinie sichern. Die Friedensvereinbarung bringt Armenien nur in einem Punkt etwas Ruhe. Es bleiben enorme Herausforderungen, die das Land allein kaum stemmen kann. Die CO-Vorsitzenden der Minsker Gruppe (Frankreich, USA und Russland) sind jetzt gefordert, nach einem politischen Lösungsweg zu suchen. Das ist für Armenien und die Bevölkerung von Berg-Karabach unabdingbar. Es darf nicht zu einer Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus der Heimat kommen. Und wir fordern auch, dass die grausamen Kriegsverbrechen aufgeklärt und die Verantwortlichen einer gerechten Strafe zugeführt werden. Nur so kann es zu einer Befriedung in der Region kommen. Und hierbei hoffen, nein, erwarten wir Hilfe und Unterstützung der international zuständigen Organisationen. Wir erwarten, dass sie ihren „Zuschauerposten“ verlassen und sich aktiv und konsequent für eine politisch stabile Lösung einsetzen.
Das Gespräch führte mdw-Europa-Redakteur Dr. Hans Jörg Schrötter