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So klingt der Ost-Schlager im Herbst 2019

Die Frauenkirche in Dresden ist eine Kirche des Barock und der prägende Monumentalbau am Dresdner Neumarkt. Das Landgut Stober im brandenburgischen Groß Behnitz ist heute das nachhaltigste Hotel Deutschlands. Die Krämerbrücke ist das älteste profane Bauwerk Erfurts. Sie ist die längste durchgehend mit Häusern bewohnte Brücke Europas. Fotos: mdw/Wannewitz (3)

Von Herausgeber und Chefredakteur André Wannewitz

Der Herbst 2019 ist Erinnerung für die einen, Aufbruch, Neuanfang oder gar Ende für die anderen. Zu keinem Zeitpunkt seit 1989 sind zwischen Kap Arkona und Fichtelberg so großartige politische Veränderungen oder gar Umbrüche in den Landesparlamenten zu erwarten, als das bereits weit vor den jetzigen Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen deutschlandweit und sogar europäisch debattiert wurde, wie die in Ostdeutschland ausgehen mögen und zu welchen politischen Konsequenzen ihre Ergebnisse führen werden.

Auch wenn die Resultate in Sachsen und Brandenburg zu dem Zeitpunkt bereits in aller Munde sind, wenn diese Zeitung in Umlauf kommt, doch der Freistaat Thüringen, in dem am 27. Oktober ein neuer Landtag gewählt wird, ist aus meiner persönlichen Wahrnehmung eine ganz besondere Marke, die mit den Maßstäben, die 1990 zur Deutschen Einheit galten, mit einem gesunden Menschenverstand nicht erklärt werden können. Meine Interpretation dafür führt zurück tief in den DDR-Sozialismus zu Beginn der 80er Jahre. Ich erlernte im größten bucherstellenden Betrieb der DDR, dem Karl-Marx-Werk Pößneck, den Beruf eines Buchdruckers, also den Journalismus von der Pike auf. In der dem früheren Grafischen Großbetrieb angeschlossenen Berufsschule „Heinz Kapelle“ im Bezirk Gera lernten mit mir Lehrlinge aus vielen Druckereien der Republik das polygraphische Handwerk. Und wie alle wichtigen Druckereibetriebe, Zeitungsverlage und Vertriebsorgane in der DDR wurde auch das Karl-Marx-Werk Pößneck von der Zentrag in Berlin zentralgeleitet, die direkt dem SED-Zentralkomitee unterstand.

Keine Frage also, das Karl-Marx-Werk war ein Parteibetrieb, in dem 1980/81 auch Erich Honeckers Erinnerungen „Aus meinem Leben“ gedruckt wurden. Deshalb traf es mich wie ein Schlag, als ich zum ersten Mal die Gegensätzlichkeit spürte, die dort auf mich einwirkte. Und die war beileibe kein Einzelfall im heutigen Freistaat Thüringen. Im Wohnheim der Pößnecker Berufsschule, wo auch ich während der Lehrzeit lebte, war der westdeutsche Sender „Bayern 3“ die Haus- und Hofstation des Rundfunks für die damals 17- bis 18-Jährigen. Das war geduldet; von den Erziehern hörte ich keinen Widerspruch. Einige Jahre später an einem anderen Ort im Bezirk Gera: Im Sommer 1988 erlebte ich auf einem Campingplatz am Hohenwarte-Stausee zu mitternächtlicher Stunde langanhaltendes jugendliches Gejohle auf Deutschland. Auch hier: geduldet und offenbar für gut empfunden. Und im Sommer 1991 wollte ich mir in einem Restaurant in Saalburg zum Abendessen einheimisches Bier aus Thüringen bestellen, da fragte mich der Wirt belehrend, ob ich nicht wisse, dass wir jetzt die Deutsche Einheit haben. Er brachte mir ein Gerstensaft aus Bayern.

Mein Thüringen-Bild seit 2014 infrage gestellt
Mein Eindruck über Thüringen, ist, so glaubte ich lange Jahre, unerschütterlich. Schon weit vor 1989 waren es vor allem junge Leute, die sich zum anderen deutschen Staat mehr hingezogen fühlten wie zum eigenen. Und die meisten Menschen zwischen Erfurt, Suhl und Gera waren 1989 begeistert von der Wende, von der Deutschen Einheit, von der Riesenchance, die sich 1990 eröffnete. Vor allem mit Bernhard Vogel, aber auch später mit Dieter Althaus und Christine Lieberknecht, wuchs der Freistaat unter christdemokratischer Verantwortung zu einer festen Bastion von Innovation und Zukunft im wiedervereinigten Deutschland. In den Jahren von Lothar Späth in Jena stattete er die Stadt und ihre Einwohner mit großer Tatkraft und Begeisterung technologisch, industriell und wirtschaftlich für die Zukunft aus.

Um so tiefer sitzt bei mir im 30. Jahr der Wende der Schock, dass die Mehrheit der heutigen Wahlberechtigten der SED-Nachfolgepartei „Die Linke“, ihrem Spitzenkandidaten Bodo Ramelow und der von ihm geführten rot-rot-grünen Koalition eine zweite Chance geben wollen. Das passt einfach nicht zu meinem Thüringen-Bild, das ich seit fast 40 Jahren in mir trage. Mittlerweile höre ich sogar Lobeshymnen über Ramelow und frage mich, mit welchen Ergebnissen hat er sich diese verdient? 

Auch Bernhard Vogel kam damals aus dem Westen in den Osten. Der war und ist aber aus dem Holz des Einheitskanzlers Helmut Kohl geschnitzt. Und was für Kohl galt, gilt auch für Vogel: Deutschland dürfe nie wieder von Rechts oder Links regiert werden. Punkt; das war in den 90er Jahren eine Ansage. Dann schrieben wir das Jahr 2014, und in Thüringen gelang es dem früheren West-Gewerkschafter Bodo Ramelow von der Linkspartei, die Macht zu erobern und damit den ersten linken Ministerpräsidenten in Deutschland zu stellen. Wie das ging, frage ich mich noch heute, musste allerdings schnell zur Kenntnis nehmen, dass im westdeutschen Wertesystem jeder Mensch, also auch Personen mit Hauptschulabschluss, in höchste politische Ränge aufsteigen kann. Bei einer demokratischen Wahl hat also 2014 in Thüringen ein mehrheitlicher Sinneswandel weg von den Koservativen hin zu den Sozialisten stattgefunden. Und mit Grünen und der inzwischen zur Schrumpfungspartei verkommenen SPD regiert es sich offenbar so komfortabel, dass eine zweite Amtszeit für Ramelow nicht unmöglich scheint.

Die CDU jedenfalls, die seit nunmehr fünf Jahren unter Führung Mike Mohrings im Thüringer Landtag auf den harten Bänken der Opposition sitzt, hat es nicht vermocht, so zu agieren, dass ihr die Mehrheit der Wahlberechtigten am letzten Oktober-Sonntag einen Regierungsauftrag erteilen würde. Dabei ist Mohring durchaus kein politischer Jüngling. Also hätte er zumindest wissen können und wissen müssen, dass man Schuld für eigenes Versagen nicht auf andere schiebt. Für die Probleme der CDU in Thüringen ist nicht der Bundesvorstand in Berlin oder gar die Bundesvorsitzende verantwortlich. CDU-Landespolitik wird im Freistaat gemacht, und da hat Mohring in verschiedenen Funktionen seit Jahren den Hut auf! Wenn er als Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl versagt, dürfte die Thüringer CDU ohnehin einen neuen Chef brauchen. Aus meiner Sicht wäre Mohring dann politisch verbraucht.

Die Frage aller Fragen: Freiheit oder Sozialismus?
Mit den drei Landtagswahlen im Osten Deutschlands im Herbst 2019 und der gleichzeitigen Erinnerung an die Wendezeit in der DDR vor 30 Jahren stellt sich zugleich die Frage: Was wird aus Angela Merkel? Sie ist ein Kind der Wende, hat im Herbst 1989 das politische Laufen gelernt und regiert Deutschland als Bundeskanzlerin seit 2005. Ein einmaliger Aufstieg mit einer einmaligen hoch zu würdigenden Lebensleistung könnte sich dem Ende zuneigen. Bei rasant wachsenden Kräften der AfD, aber auch bei ernstzunehmenden Gedankenspielen bei der Einführung des Sozialismus 2.0, wenn die Farbenlehre Grün, Rot, Rot Aussicht auf Mehrheiten im Bund hätte, ist die Karriere Merkels beendet.

Bisher vermochte es kein CDU-Politiker von Rang, auch nur ansatzweise öffentlich über ein Bündnis mit der AfD auf Bundes- oder Landesebene zu sprechen. Doch ist jedem verständigen mitdenkenden Menschen heute schon klar: Sollte die Union weiter auf Akzeptanz und Mehrheit im deutschen Volk setzen, führt an einem Miteinander mit der AfD früher oder später kein Weg vorbei. Das größte Problem, mit dem die CDU Deutschlands hier fertig werden muss, hat ihr die Bundeskanzlerin 2015 selbst eingebrockt, als sie im Alleingang Deutschlands Grenzen für jeden weit öffnete. Die Flüchtlingskrise, mit der wir immer noch kämpfen, war, ist und bleibt in meinen Augen Merkels Kardinalfehler in ihrer gesamten bundesdeutschen Polit-Karriere.

Annegret Kramp-Karrenbauer ist aber aus meiner Sicht auf keinen Fall Angela Merkel ebenbürtig.  Nehmen wir ihren ganzen Eiertanz gegenüber dem früheren Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen. Die Parteivorsitzende hatte zuletzt mit Aussagen über ein mögliches Parteiausschlussverfahren gegen Maaßen für großen Ärger gesorgt – auch in den eigenen Reihen. Nach heftiger Kritik aus der CDU, etwa von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, distanzierte sich AKK von einem Parteiausschluss.

Wer wie Kramp-Karrenbauer zur ihrer Ernennung als Bundesministerin der Verteidigung im Amtssitz des Bundespräsidenten im Minirock erscheint, brüskiert die Verantwortung der Soldatinnen und Soldaten und verkennt die Ehre, die mit der Verteidigung des Vaterlandes verbunden ist. Sie ist die vornehmste Aufgabe für einen Staat sowohl im Frieden als auch in Kriegszeiten – und die kann man nicht im Minirock oder in den Gewänden leichter Mädchen lösen. Ich hoffe inständig, Kramp-Karrenbauers Leute haben der Ministerin inzwischen die Dienstvorschrift zur Kleiderordnung der Bundeswehr erläutert. Als früherer Angehöriger der Nationalen Volksarmee wundere ich mich seit 1990 ohnehin, dass in der Bundesrepublik Deutschland der ranghöchste Soldat der Bundeswehr nicht zugleich der Bundesminister der Verteidigung ist. Man kann auch hier den Eindruck gewinnen, dass selbst der Verteidigungsminister als Mitglied der Bundesregierung nicht nach seinen Erfahrungen und militärischen Kenntnissen sondern nach seinem Parteibuch bestimmt wird. Ob er oder sie selbst in einer Armee gedient hat, spielt offenbar keine Rolle.

Platzeck: „Ungute Stimmung im Osten“
Matthias Platzeck (SPD), auf dem Foto auf der rechten Seite, war er noch Brandenburger Ministerpräsident, ist heute Chef der Kommission „30 Jahre Deutsche Einheit“. Das Gremium ist ein Organ der Bundesregierung, das die Feierlichkeiten im Jahre 2020 planen und begleiten soll. Im Sommer 2019, 10 Jahre nach Beendigung der Deichrückverlegung im brandenburgischen Lenzen an der früheren Nahtstelle zwischen Ost und West, sieht Platzeck bei Teilen der Ostdeutschen eine „ungute Grundstimmung“. Er macht sich darüber öffentlich Gedanken, sagt, dass die herkömmlichen Volksparteien die Gesellschaft nicht mehr überall durchdringen und abbilden. Die Demokratie sieht er am „Rande einer Krise“. Zwei Sätze, die Platzeck spricht, sind an Deutlichkeit und Richtigkeit nicht zu überbieten. „Wir müssen die Abfolge und die Summe der Ereignisse im Auge haben: Zusammenbruch nach 1990, Finanzkrise 2008 und Flüchtlingskrise 2015, alles in einer Generation. Bei nicht wenigen Menschen hat sich das Gefühl ausgebildet, der Staat, von dem sie das eigentlich erwarten, habe nicht mehr alles im Griff und schütze sie nicht mehr hinreichend.“

Ein anderes Thema, das Matthias Platzeck als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums beackert, ist die Frage der deutsch-russischen Beziehungen, die aus der Historie heraus für Ostdeutschland ein besonderes Primat haben. Die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen aus Westdeutschland hat eine harte Linie gegenüber Russland angekündigt. Im „Spiegel“ forderten jetzt zwei ostdeutsche Ministerpräsidenten dagegen ein Ende der Sanktionen. „Als deutscher Politiker denke ich an die vielen Unternehmen gerade in den neuen Bundesländern, die besonders hart von den Folgen der Sanktionspolitik getroffen werden“, sagte der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen Michael Kretschmer dem Blatt. Bei seiner Forderung nach der Aufhebung der Sanktionen wisse er einen großen Teil der Deutschen auf seiner Seite: „Dies ist kein spezifisch ostdeutsches Thema.“ Unterstützung erhielt er vom brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke. Der SPD-Politiker warnte vor einer harten Haltung gegenüber Russland, wie sie die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gefordert hatte. „Wir brauchen eine klare Haltung, aber keine Härte. Und wir brauchen vor allem kein Öl im Feuer.“ Matthias Platzeck, unmittelbarer Vorgänger Woidkes als brandenburgischer Regierungschef, sieht Kretschmers jüngstes Treffen mit Wladimir Putin in Sankt Petersburg als potenziell entscheidend für die sächsische Landtagswahl: „Das Foto war für Kretschmer ein Coup, der ihm möglicherweise entscheidende Prozentpunkte für die Landtagswahl bringen könnte“, sagte Platzeck.

Platzecks größte Verdienste liegen eine Weile zurück. Die Jahrhundertflut an der Oder 1997 brachte ihm den Titel „Deichgraf“ ein. 1998 wurde er Oberbürgermeister von Postdam, ehe Platzeck im Sommer 2002 zum Nachfolger Manfred Stolpes als Ministerpräsident Brandenburgs gewählt wurde. 2013 erlitt Platzeck einen leichten Schlaganfall und trat deswegen als Regierungschef zurück.


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