Grenzen auf, Augen zu? Der Mord von Frankfurt und das System der offenen Grenzen in Europa
Die Bundeskanzlerin hat sich zu dem Fall nicht geäußert. Sie ist auch nicht nach Frankfurt gereist, wo ein Asylant aus Schwarzafrika einen 8-jährigen deutschen Jungen hinterrücks vor einen fahrenden Zug gestoßen hat. Politiker ebenso wie deren getreue Medien setzten alles daran, diesen Fall massivster Ausländerkriminalität als den Akt eines verwirrten Einzeltäters herunterzuspielen und wählten die Taktik, nach kürzester Zeit nicht mehr darüber zu reden.
Aus gutem Grund. Der Fall besitzt nämlich eine ungeheure europapolitische Sprengkraft, offenbart die Zweischneidigkeit unserer so willkommenen offenen Binnengrenzen im sogenannten Schengen-Raum. Der Täter aus Eritrea, dem die Schweiz Asyl gewährt hatte, war dort zur Fahndung ausgeschrieben. Ohne jegliche Kontrolle war er nach Deutschland gelangt. Die BILD-Zeitung wagte es, genau diesen Punkt am 31. Juli 2019 in ihre Überschrift aufzunehmen. Daraufhin schäumten die Muster-Europäer. Die Europa-Union Deutschland etwa hält „die Instrumentalisierung der Geschehnisse am Frankfurter Hauptbahnhof durch die BILD-Zeitung für das Schüren antieuropäischer und fremdenfeindlicher Ressentiments“.
„Missbraucht“ das Blatt, wie die Europa-Union wütet, tatsächlich den grauenhaften Mord von Frankfurt, „um die offenen Binnengrenzen in Europa in Frage zu stellen“? Macht es wirklich die Europäische Union und vor allem den Schengen-Raum mitverantwortlich für dieses abscheuliche Verbrechen? Der Verfasser nimmt die BILD-Zeitung allenfalls gelegentlich zur Kentnis, etwa im Urlaub. Hier aber verdient sie Respekt, setzt sich über gängige Tabuisierungen hinweg und erinnert ihre Leser – an ein Faktum: Tatsächlich geht es um nichts Geringeres als den zentralen Schwachpunkt des Systems, dass wir „Schengen“ nennen und dem es immanent ist, dass nicht nur Touristen, sondern auch Flüchtlinge, illegale Migranten, Krimminelle oder Terroristen ohne Kontrollen in unser Land gelangen können.
Im luxemburgischen Städtchen Schengen wurde das Abkommen 1985 unterzeichnet und trat 1995 in Kraft. 26 Staaten haben es seither umgesetzt, also auf systematische Personenkontrollen an ihren Binnengrenzen verzichtet – auch Nicht-EU-Staaten wie Norwegen oder die Schweiz. Es kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, dass das Abkommen auf zwei ganz entscheidenden Prämissen beruht: zum einen auf einem effizienten Schutz der Außengrenzen des Schengen-Raumes. Zum anderen auf klaren Zuständigkeitsvorgaben im Rahmen der Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Beide Vorgaben sind de facto nicht erfüllt.
Das Dublin-System – oft missachtet, kaum effizient
Letzteres sollte mit einem 1990 in Dublin vereinbarten System erreicht werden, wonach die Aufnahme, Registrierung und Unterbringung von Flüchtlingen demjenigen Schengen-Staat obliegt, dessen Boden sie zuerst betreten. Leider wurde das Dubliner Abkommen bereits vor der Flüchlingskrise zunehmend – vor allem zu Lasten Deuschlands – missachtet, um 2015 vollends zu kollabieren. Eine erhebliche Zahl der Flüchtlinge zieht, ganz gleich in welchem Schengen-Land sie ankommen, systematisch und gezielt weiter – nach Deutschland.
Im Sommer 2018 wollte der Bundesinnenminister, wie es das Abkommen ausdrücklich vorsieht, Flüchtlinge, die in anderen Vertragsstaaten bereits regstriert sind, an der deutschen Grenze zurückweisen. Er wollte dem seit Jahren zu Lasten Deutschlands wachsenden Missbrauch des Schengen-Systems einen Riegel vorschieben. Die Bundeskanzlerin aber fiel ihm aus bis heute nicht rational nachvollziehbaren Beweggründen und unter dem Vorwand, eine „europäische Lösung“ müsse her, in den Arm. Die Koalitionskrise war perfekt.
Der Bundesinnenminister wollte eine vertraglich vorgesehene europäische Option umsetzen. Die Kanzlerin dagegen hatte – außer ihrer Richtlinienkompetenz – nichts in der Hand. Schon im September 2015 hatte sie gleichsam über Nacht mutwillig das gesamte Dublin-System – also eine bestehende „europäische Lösung“ – aus den Angeln gehoben. Mit ihrer Politik der „Lockufe“ an alle Migranten dieser Welt spaltete sie seinerzeit die EU im Verhältnis 27 zu eins. Noch nie hatte Deutschland eine derart unabgestimmte europäische Politik betrieben. Noch nie hatte sich Deutschland von seinen Partnern so weit entfernt. Was viele nur dachten, formulierten andere um so deutlicher; Victor Orban warf ihr „moralischen Imperialismus“ vor, und tschechiens Präsident Milos Zeman bezeichnete noch im August 2016 Merkels Flüchtlingspolitik als „absurd“.
Der niederländische Soziologe Paul Scheffer brachte es in der SZ am 31. Dezember 2016 auf den Punkt: „Deutschland hat den Eindruck vermittelt, es habe die Menschen eingeladen... Nun gehen die Einschätzungen des Flüchtlingszustroms sehr auseinander, wir sehen einen deutschen Alleingang. Es wird keine europäische Lösung im Sinne Merkels geben. Deutschland trägt zu etwas bei, was es immer vermeiden wollte: zum Auseinanderfallen der EU.“
Wie „absurd“ es war, über eine Million Migranten ohne jedes Konzept unkontrolliert und unregistriert in unser Land strömen zu lassen, zeigte sich nicht nur in der Beziehung zur EU, sondern allzu bald und sehr markant auch im Inland. Gerichte, Lehrkräfte, Behörden und Ausländerämter können Lieder singen. Die massenhaften Vorfälle schwerwiegender Belästigungen der Silvesternacht von 2015 in sehr vielen deutschen Städten wie Frankfurt, Hamburg oder Köln setzten sich in diesem Sommer in unseren Freibädern in erschreckendem Ausmaß fort. Der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrationsverbände, Ali Ertan Tobrak, selbst Migrant, warnt in der WELT vom 31. Juli 2019 eindringlich: „Europa und speziell Deutschland kann nicht der Zufluchtsort für die halbe Welt werden, ohe dass es selbst daran zugrunde geht.“ Statt unsere nationalen Grenzen zu sichern, errichten wir nun Zäune und Barrieren um unsere Weihnachtsmärkte und Volksfeste – und um den Reichstag!
Ein Konzept, wie man den Magneteffekt Deutschlands auf Asylbewerber, Flüchtlinge und Migranten aus aller Welt reduzieren könnte, stand – und steht - in Berlin nicht zur Debatte.
„Europäische Lösung“? Ein Konzept, wie man dem Dubliner System wieder Geltung verschaffen und vor allem den Magneteffekt Deutschlands auf Asylbewerber, Flüchtlinge und Migranten aus aller Welt reduzieren könnte, hatte das Kanzleramt nicht.
Der Verfasser hat verschiedentlich aufgezeigt, dass nur eine umfassende Harmonisierung der Bestimmungen über die Flüchtlings-Anerkennung und deren Versorgung, über den Familiennachzug oder die Abschiebungsmodalitäten im gesamten Schengen-Gebiet eine gewisse Gewähr dafür bieten könnte, dass Flüchtlinge nicht weiter wandern, ganz gleich, wo in Europa sie ankommen. Es mag überraschen, aber bereits 1999 hatte der Europäische Rat in Tampere genau das angemahnt: „gemeinsame Standards für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren, gemeinsame Mindestbedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft“. Umgesetzt wurde nichts davon.
Schutz der Außengrenzen – Versprechen nicht einlösbar
Der Wegfall der Personenkontrollen an dessen Binnengrenzen setzt einen wirksamen Schutz der Außengrenzen des Schengen-Raumes zwingend voraus. Dieser Schutz aber ist leider bis heute eine von Politikern gern und oft missbrauchte Leerformel geblieben.
Staatsrechtler haben 2015 darauf verwiesen, dass angesichts der über die Außengrenzen millionenfach in die EU hineinflutenden Flüchtlinge und Migranten die Nationalstaaten – so auch Deutschland – verfassungsrechtlich verpflichtet gewesen seien, ihr Staatsgebiet zu schützen, also ihre eigenen Grenzen zu schließen, um die Kontrollhoheit darüber zu behalten, wer ins Land hineinläuft und woher er kommt. Das europäische Recht akzeptiert in solchen Fällen ein „Selbsteintrittsrecht“ der Mitgliedstaaten.
Die Bundesregierung hat hiervon keinen Gebrauch gemacht. Schon damals bemühte unsere Bundeskanzlerin in erkennbarem Widerspruch zu ihrer mit den EU-Partnern nicht abgestimmten Grenzöffnung die Chimäre einer „euronpäischen Lösung“.
Nur – wie soll sie aussehen? Gern wird dabei auf die „Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ – kurz: Frontex – verwiesen. Gegründet wurde sie 2004, als immer klarer zutage trat, welche Bedeutung einer Absicherung der Außengrenzen des Schengen-Raumes zukam. Frontex‘ Auftrag lautete dementsprechend, die Mitgliedsstaaten darin zu unterstützen, diese Außengrenzen vor „illegalen Aktivitäten“ wie Schlepperei, Drogenhandel oder illegaler Migration „zu schützen“. Dafür stellen EU-Kommission, Europäisches Parlament und Mitgliedstaaten der Agentur mehrere Millionen Euro jährlich zur Verfügung.
Grenzsicherung oder Seenotrettung?
Die kleine Agentur, ohne gesetzgeberische oder exekutive Gewalt, füllte rasch ein Vakuum, das das Gespann der 28 EU-Staaten in ihren unentschlossenen und in wesentlichen Punkten uneinigen migrationspolitischen Ansätzen unübersehbar zu Schau stellte. So konnte sich Frontex zu einer entschlossen agierenden EU-Grenzpolizei entwickeln, was naturgemäß Kritiker auf den Plan rief.
Im Februar 2014 billigte der Innenausschuss des Europäischen Parlaments neue Einsatzregeln für die Grenzschutzagentur. Verboten ist es seither, Einwandererboote zur Umkehr auf das offene Meer zu zwingen. Im Klartext: die Besatzungen von Schiffen, die an Frontex-Operationen teilnehmen, dürfen Flüchtlingsboote nicht mehr abfangen und zurückschicken. Sie dürfen nur noch Warnungen aussprechen und die Boote „anweisen“, nicht in die Territorialgewässer eines EU-Staates einzudringen. Grenzpolizisten der EU-Staaten sowie Frontex-Mitarbeiter werden zudem verpflichtet, in Seenot geratene Flüchtlinge zu retten sowie Flüchtlingen bei Bedarf Zugang zu medizinischer Versorgung, Übersetzungsdiensten und Rechtsberatung zu gewähren.
Die Zahlen belegen, dass gleichsam „über Nacht“ deutlich mehr Boote von den Küsten Nordafrikas ablegten. Es sprach sich offenbar wie ein Lauffeuer herum, bei den Schleusern, aber auch bei den Wanderern aus Schwarzafrika oder aus östlichen Kriegs- und Krisengebieten: wer erst einmal auf See ist, der wird gerettet.
Wobei die Vokabel „Seenotrettung“ verschleiert, dass Schlepper die Migranten in Schwimmwesten packen und sie in der Gewissheit in Schlauchboote setzen, dass auf See Schiffe warten, um sie zuverlässig nach Europa zu transportieren. Vielleicht schafft das Angebot zusätzliche Anreize, Leib und Leben zu riskieren? Und wie lassen sich diese Aktionen mit dem so nachdrücklich beschworenen politischen Ziel, die „Außengrenzen zu schützen“, in Einkang bringen?
Bis heute hat dem Verfasser niemand erläutert, was eigentlich mit „Schutz“ gemeint ist. Die Bedeutung von Frontex in allen Ehren; „Schutz der Außengrenzen“ aber dürfte derzeit allenfalls bedeuten, dass man die Menschen, die auf eigenes Betreiben über das Mittelmeer oder auf anderen Routen in die EU streben, zumindest registriert, im günstigen Fall rettet, in jedem Fall aber nach Europa bringt. Ob die Agentur das Phänomen der unkontrollierten Migration tatsächlich an der Wurzel packen kann, bleibt angesichts ihrer begrenzten Kompetenzen mehr als zweifelhaft. Während der österreichischen Ratspräsidentschaft 2018 warb Bundeskanzler Sebastian Kurz dafür, Frontex mit einem „robusten Mandat“ auszustatten. Migranten sei zu signalisieren, dass die Fahrt hinaus auf das Mittelmeer nicht die garantierte Einwanderung nach Europa bedeuten kann – was sie aber bis heute de facto bedeutet.
Selbst der scheidende Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker blieb in diesem zentralen Punkt nebulös, wenn er in seiner Rede zur Lage der Union 2018 ausführte: „Außengrenzen müssen effizienter geschützt werden. Deshalb schlagen wir vor, die Zahl der europäischen Grenzschutzbeamten, die vom europäischen Haushalt finanziert werden, bis zum Jahr 2020 auf 10 000 Grenzschützer zu erhöhen.“ Was aber „effizienter geschützt“ konkret bedeuten soll, bleibt so offen und unbeantwortet wie eh und je. Entscheidend wäre, was all´ diese „Grenzschützer“ künftig tun dürfen – und was nicht.
Der niederländische Soziologe Paul Scheffer würde der Europa Union die Leviten lesen und BILD recht geben. Ein Tabuisieren und Schönfärben spiele, so Scheffer, Extremisten in die Karten. Er plädiert für einen „gesunden Realismus“ nach der Devise „Grenzen zu, Augen auf“. Schon 2002 schrieb er: „Eine Gesellschaft, die nicht mehr darüber entscheiden will, wer innerhalb ihrer Grenzen lebt, lässt das demokratische Leben verkommen“.