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Die Europawahl - Wer wählt was warum?

Politisch betrachtet und analysiert von Dr. Hans Jörg Schrötter, Berlin

Am 26. Mai sind die Bürgerinnen und Bürger in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur „Europawahl“ aufgerufen.
Natürlich wird nicht Europa gewählt, sondern das „Europäische Parlament“ (EP). Genauer: das Parlament der Europäischen Union (EU) mit Sitz in Straßburg. Die Wählerinnen und Wähler geben ihre Stimme Kandidaten der verschiedenen Parteien, die sich um Sitze im EP bewerben. Jedes Mitgliedsland stellt eigene Kandidaten auf; in jedem Land der EU stehen dementsprechend auch nur diese nationalen Kandidaten zur Wahl.

Wer darf hier wählen bzw. sich zur Wahl stellen?
Jeder Unionsbürger mit vollendetem 18. Lebensjahr ist wahlberechtigt. Unionsbürger, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU wohnen oder leben, können auch dort zur Wahl gehen, wählen dann aber die Kandidaten des Gastlandes. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines der 28 (27?) EU-Mitgliedstaaten besitzt.

Das für eine Kandidatur zum EP vorgeschriebene Mindestalter ist – wie so vieles im bunten Europa – von Land zu Land unterschiedlich geregelt. In Deutschland kann man sich bereits mit 18 Jahren zur Wahl stellen. Bei unseren Nachbarn Belgien, Tschechien und Polen beispielsweise ist man mit 21 passiv wahlberechtigt, in Rumänien mit 23 und in Estland und Italien erst mit 25 Jahren.

Seit wann gibt es die Wahl zum EU-Parlament?
Eine direkte Wahl zum EP fand einheitlich in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft erstmals im Juni 1979 statt. Seither wählen die Angehörigen der EU-Staaten alle fünf Jahre ihr Parlament direkt und unmittelbar.

Das Europäische Parlament ist die Vertretung aller Bürgerinnen und Bürger der 28 (27?) EU-Mitgliedstaaten und gemeinsames Organ der EU. Sein offizieller Sitz ist Straßburg, wo zwölfmal im Jahr Plenartagungen stattfinden. Weitere Plenarsitzungen sowie die parlamentarischen Ausschüsse finden in Brüssel statt. In Luxemburg befindet sich das Generalsekretariat, also die Verwaltung.

Rolle des EP gegenüber der EU-Kommission
Gegenüber der EU-Kommission, sozusagen die Exekutive der EU, kann das EP wahrlich demokratisch auftreten: Seit 2014 wählt es den Präsidenten der Kommission. Bis dato benannten ihn die Regierungen der EU-Staaten „hinter den Kulissen“. In Abstimmung mit dem Kommissionspräsidenten benennen die nationalen Regierungen dann die weiteren 27 Kommissionsmitglieder; jeder Mitgliedstaat der EU ist vertreten – entweder mit einem Kommissar oder mit dem Präsidenten. Das EP muss weiterhin der Ernennung der Europäischen Kommission insgesamt zustimmen. Eine weitere demokratische Legitimation ergibt sich daraus, dass das EP die Mitglieder der EU-Kommission jederzeit durch einen Misstrauensantrag zwingen kann, ihre Ämter geschlossen niederzulegen.

Immerhin ist die EU-Kommssion ein machtvolles Organ der EU. Im europäischen Gesetzgebungsverfahren hat allein sie das Recht, Gesetze einzubringen (Initiativrecht). Man nennt sie daher „Motor“ der EU.

Weiterhin setzt die Kommission die EU-Gesetze in der Praxis um (Exekutivrecht) und verwaltet den EU-Haushalt.
Die Kommission kontrolliert die Verträge („Hüterin der Verträge“) und vertritt die EU auf internationaler Ebene. Letzteres bedeutet, dass sie im Namen der EU Verhandlungen über Handels- und Koperationsabkommen (z.B. TTIP, Ceta u.ä.) sowie die Verhandlungen mit Staaten führt, die der EU beitreten wollen.

Verteilung der Abgeordneten auf die EU-Mitgliedsstaaten
Nach der Wahl wird das Parlament über 705 Sitze verfügen. Die Zahl der auf das jeweilige Mitgliedsland entfallenden Sitze orientiert sich grundsätzlich an dessen Bevölkerungsgröße. Zugleich aber wird den kleineren Staaten eine ausreichende politische Vertretung im EP gewährt. Bisher verfügt beispielsweise Deutschland über 96 Sitze im Parlament, Frankreich über 74 und Malta über 6 Sitze.

Wahltermin und Wahlverfahren
Es gibt einen einheitlichen Wahlzeitraum, der sich über mehrere Tage erstreckt. In einigen Ländern wie etwa in den Niederlanden oder Irland wird traditionell an einem Wochentag gewählt, in den meisten anderen präferiert man den Sonntag. Die Bürger Europas wählen auch nach unterschiedlichen Wahlverfahren entsprechend ihrer nationalen Wahlgesetze. Insbesondere die Sperrklauseln sind unterschiedlich hoch: Verschiedene EU-Staaten haben Sperrklauseln zwischen 3 und 5 Prozent. Ebenso wie in 16 weiteren Ländern gibt es seit 2014 auch in Deutschland für Parteien, die in das EP einziehen wollen, keine Prozent-Hürde mehr. Schließlich besteht in Griechenland, Luxemburg und Zypern Wahlpflicht.

Wahlverfahren in Deutschland
Das Wahlverfahren in Deutschland ist im Europawahlgesetz von 1978 geregelt. Es enthält – rein nationale – Bestimmungen über das Wahlsystem, das Wahlgebiet, das aktive und passive Wahlrecht, die Stellung der Auslandsdeutschen, das Wahlvorschlagsrecht, die Wahlprüfung und die Erstattung der Wahlkampfkosten.
Seit 1997 gibt es Bestrebungen, gemeinsame Wahlgrundsätze in der gesamten EU zu schaffen. Sie sind bislang nicht umgesetzt worden.
Die deutschen Abgeordneten werden auf der Basis von Bundeslisten oder verbundenen Landeslisten nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Mit der Verhältniswahl will man erreichen, dass möglichst alle politischen Richtungen im Parlament vertreten sind. Nicht im Deutschen Bundestag vertretene Parteien brauchen für die Zulassung in die Bundesliste viertausend und für die Landesliste zweitausend Unterschriften.

Jeder Wähler hat – anders als bei der Wahl zum Deutschen Bundestag – nur eine Stimme.

Spitzenkandidaten bei der EU-Wahl
Wie bereits bei der Europawahl 2014 haben auch für 2019 einige Parteien Kandidaten benannt, die für die jeweilige politische Gruppierung in allen Mitgliedstaaten der EU als ihr Spitzenkandidat gelten. So wurde Frans Timmermanns zum Spitzenkandidaten aller Sozialdemokraten im EU-Parlament nominiert und Manfred Weber für die christlich-demokratischen und konservativen Parteien im EP. Die europäischen Grünen wählten Ska Keller und Bas Eickhout zu ihren Spitzenkandidaten. Die Allianz der Liberalen und Demokraten stellt keinen Spitzenkandidaten auf; sie geht stattdessen mit einem „Kampagnenteam“ in die Wahl 2019.

Beteiligung bei EU-Wahlen
Die Wahlen zum EP üben auf uns Unionsbürger eine im Vergleich zu nationalen Wahlen eher bescheidene Faszination aus. Die These von der „Low-interest-Wahl“ bestätigte sich nachhaltig: Die Wahlbeteiligung in Deutschland schrumpfte von 62,5 Prozent im Jahr der ersten Direktwahl 1979 über 60,6 Prozent 1984 auf 58,5 Prozent 1989. 1994 schien sie sich bei 60,0 Prozent auf bescheidenem Level einzupendeln, sackte bei den Europawahlen 1999 aber auf 45,2 Prozent und 2004 sogar auf 43 Prozent ab. Diese Ergebnisse wurden 2009 mit 42,5 Prozent nochmals unterschritten und stabilisierte sich 2014 dezent bei 47,9 Prozent. Damit war Deutschland allerdings kein Außeneiter: In der gesamten EU beteiligten sich 2009 ebenso wie 2014 etwa 43 Prozent aller Wahlberechtigten an der Europawahl.

Wie wichtig ist diese Wahl für die europäische Politik?
In den zurückliegenden 50 Jahren europäischer Einigung hat sich das EP zu einem einflussreichen Organ entwickelt. Insbesondere der Lissabon-Vertrag von 2009 hat die Spielräume des EP markant erweitert: Es kann nicht nur bei weiten Teilen der Innen- und Rechtspolitik mitentscheiden, sondern bei rund 80 Prozent der Gesetzgebungsverfahren.
Beim Haushalt der EU hat es ein gewichtiges Wort mitzureden und muss ihn am Schluss verabschieden.
Völkerrechtliche Verträge der EU – wie etwa Beschlüsse über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten oder über Assoziierungsabkommen – können heute nur in Kraft treten, wenn das EP zustimmt. Das gilt gleichermaßen für Freihandelsabkommen. Die Mitwirkungsrechte bei der Gestaltung der Außenbeziehungen oder der Erweiterung der Europäischen Union sind also nennenswert.

Weiterhin ist das EP eng an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) beteiligt.
Das EP kontrolliert das Tätigwerden der Europäischen Kommission (s.o.). Seine Kontrollrechte übt es aus im Wege von schriftlichen und mündlichen Anfragen, monatlichen Fragestunden und Debatten über das Arbeitsprogramm der Kommission.

Schließlich muss das EP – was politisch höchst bedeutsam ist – der Ernennung des Präsidenten der Europäischen Kommission sowie der Kommission insgesamt zustimmen. Und allein das EP hat das Recht, die gesamte EU-Kommission zum Rücktritt zu zwingen.

Fazit: Natürlich offenbart das EP im systemischen Vergleich zu nationalen Parlamenten makante Unterschiede. Zwar symbolisiert das System der nationenübergreifenen Fraktionenbildung die europäische Dimension der parlamentarischen Rolle. Andererseits gibt es kein Zusammenspiel zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Auch ist die ausgesprochen unterschiedliche Repräsentanz der einzelnen Mitgliedstaaten im Plenum ein immer wieder ins Feld geführter Schwachpunkt. So stellt etwa Luxemburg mit rund

430 000 Einwohnern sechs Abgeordnete, d. h. einen für jeweils 83 000 Einwohner. Deutschland hingegen entsendet 96 Abgeordnete bei rund 81 Millionen Einwohnern – ein Verhältnis von eins zu 852 000. Etwa im Mittel liegt Rumänien mit 21,5 Millionen Einwohnern und 33 Sitzen. Diese sog. „degressive Proportionalität“ führt naturgemäß gerade bei Europaskeptikern immer wieder zu Stirnrunzeln: Bevölkerungsreichere Staaten dürfen im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl weniger Abgeordnete stellen als bevölkerungsärmere. Diese Regelung versucht jedoch, den extremen Größenunterschieden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten gerecht zu werden. Fehlende Wahlgleichheit hin oder her – die Europäische Union ist ein Zusammenschluss sehr unterschiedlicher, selbstbewußter Staaten, die ausnahmslos ein angemessenes Gewicht in den Organen der Union beanspruchen; Vielfalt hat ihren Preis.

Dennoch – im Rahmen der immer wieder geführten Debatten um ein „Demokratie-Defizit“ der Union ragt das demokratisch und allein von uns Unionsbürgern direkt gewählte EP leuchtend heraus. Dagegen ist der Rat der EU als einflussreichstes Organ, in dem die aus den nationalen Wahlen hervorgegangenen Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind, allenfalls mittelbar legitimiert. Die Europäische Kommission wiederum wird zunächst vom Rat bestimmt. Vor allem: Seit 2014 steht dem EP das letzte Wort darüber zu, wer Präsident der EU-Kommission wird. Die Europawahl beeinflusst damit seither deutlicher und unmittelbarer als je zuvor die Politik in der EU. Vielen Europäern ist nicht bewusst, wie einflussreich dieses Parlament heute ist.


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