Europäische Integration der mehreren Geschwindigkeiten - Krisenlösung oder Irrweg?
Schwächelnde Griechen, aufziehender Brexit, gescheiterte Verteilquoten für Flüchtlinge – Europa im Gleichschritt? Eher scheint unsere Europäische Union aus dem Tritt gekommen zu sein. Um was im Rahmen einer Stabilisierung des Euro noch mit erkennbarem goodwill und durchaus nicht erfolglos gerungen wurde, dürfte sich in der Flüchtlingskrise erkennbar verflüchtigt haben: die Solidarität und der Zusammenhalt unserer 28 Mitgliedstaaten.
Bringen wir den Willen und die Kraft auf, neue Wege zu finden? Sind wir clever genug, um neue Formen der Zusammenarbeit sinnvoll zu nutzen?
Handlungsansätze versus Spaltungstendenzen
Es ist kein Geheimnis: Konstruktionsmängel werden in Krisenzeiten sichtbar. Ist unsere Union ein Konstrukt für sonnige Tage?
In den rauen Zeiten des Kalten Krieges, als man keinem Europäer westlich des Eisernen Vorhangs die Notwendigkeit, zusammenzuhalten, näher hätte erläutern müssen, brachte es der britische Historiker Geoffrey Barraclough auf den Punkt: Europa, so schreibt er 1963 in seinem Band „Die Einheit Europas als Gedanke und Tat", habe sich in seiner Geschichte immer nur gegen etwas zusammengeschlossen, nie dagegen für etwas.
Bereits die Gründerepoche war unübersehbar geprägt von einem bunten Spektrum verschiedener Motive, die unsere Staaten und Völker zu dem historischen Schritt bewegten, einen Zusammenschluss zu wagen. Das gilt für die 2004 und 2007 beigetretenen Osteuropäer in ganz ähnlicher Weise.
Wird vor diesem Hintergrund die in jüngerer Zeit erkennbare Tendenz, dass einige Mitgliedstaaten der EU „auch ohne die anderen" bestimmte Probleme angehen, vielleicht nachvollziehbar? Wer unterstützt etwa Frontex mit Beamten und Ausstattung? Wer ist bereit, sich an der angemahnten fairen Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten zu beteiligen? Hellhörig wird man auch, wenn es in Brüssel um die Frage der Übernahme von Flüchtlingen aus der Türkei im Rahmen gegenseitiger Absprachen zur Grenzsicherung geht: ganz offen heißt es inzwischen, hieran müssten sich nicht alle EU-Staaten beteiligen. Ungarn, Kroatien und Österreich bauen Grenzzäune und betreiben beherzt Realpolitik, was von der deutschen Kanzlerin kritisiert wird – obwohl gerade sie sich flüchtlingspolitisch so irrational und konzeptionslos präsentiert wie kaum eine andere Administration der EU.
Wird die EU vor unseren Augen zunehmend in die Spaltung getrieben? Oder offenbart sie vielmehr in Krisenzeiten, wie das Beispiel der Euro-Stabilisierung zeigt, letztlich doch Flexibilität und Handlungsfähigkeit?
„Zwei Geschwindigkeiten"– Methode oder Etikett?
Es dürfte illusorisch sein, dass alle 28 Mitgliedstaaten in allen Fragen im Gleichschritt vorangehen. Und – sie müssen es auch nicht. Das vielzitierte „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" ist handfeste Realität. Es skizziert den Ansatz, dass nicht alle EU-Staaten stets alle Integrationsschritte gleichermaßen vollziehen, sondern sich in bestimmten Bereichen unterschiedlich stark an der Fortentwicklung und Vertiefung der Integration beteiligen. Wichtig ist, dass die engere Kooperation einiger Mitgliedstaaten andere nicht ausschließt, sondern allen offen steht. Zwei herausragende Beispiele:
(1) 1985 einigten sich Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten – außerhalb der Gemeinschaftsstrukturen im sog. Schengener Abkommen darauf, Personenkontrollen an ihren gegenseitigen Binnengrenzen abzuschaffen. Weitere Staaten traten später dem „Schengen-Raum" bei. „Schengen" hat – zumindest bis zum Einsetzen dramatischer Flüchtlingsströme seit dem Spätsommer 2015 – unser Europa um ein veritables Gemeinschaftserlebnis bereichert.
(2) Der Eurozone gehörten zu Beginn 11 Mitgliedstaaten der EU an. Weitere acht Länder kamen bis 2015 hinzu. Weitere wiederum streben den Beitritt an. Der Schub, den der Euro für das Zusammenwachsen unseres Kontinents entfaltete, war und ist immens wie überzeugend.
Die Chiffre „Zwei Geschwindigkeiten" steht keineswegs für eine bestimmte Methode oder gar für eine institutionalisierte Vorgehensweise. Vielmehr sprechen wir über eine Art Etikett, das man – eher im Nachhinein – Entwicklungen anheftet, die einer Gruppe von Mitgliedstaaten von Fall zu Fall opportun erscheinen, um auf bestimmten Gebieten voranzugehen und sozusagen „mehr Integration" zu wagen. Wobei der entscheidende Akzent auf dem „voranschreiten" liegt: das jeweilige Ziel können stets alle Mitglieder unterschreiben, lediglich das Tempo divergiert.
Auch andere, teils umstrittene „Geschwindigkeits-Varianten" sind auf dem Markt: Ein altbekanntes Konzept schlägt vor, ein Kerneuropa schneller fortzuentwickeln bis hin zu einer echten Europäischen Föderation. Dem steht das alternative Konzept der „abgestuften Integration" gegenüber, die die Fortentwicklung auf multinationale Verträge verlegt. Damit verwandt ist das Modell eines „Europa à la carte", bei dem jeder Staat sich nur an denjenigen Vertragselementen beteiligt, an denen er interessiert ist.
Womit wir ganz automatisch beim „Brexit" sind. Die Welt geht nicht unter, bald schon sitzen Repräsentanten der EU-Mitgliedstaaten, der EU-Kommission und Großbritanniens an einem Tisch und beraten über vertragliche Konstrukte, um bestehende Bindungen der Insel an den Kontinent de jure zu erhalten und de facto ohne größere Brüche in alter Frische weiter funktionieren zu lassen. Wir werden lediglich eine neue spannende Variante abgestufter Integration ausprobieren, vielleicht einer „Rosinenpick-" oder „à-la-Carte"-Integration". Gut. Aber unsere jahrzehntelange Erfahrung mit der seit jeher etwas anderen britischen Geschwindigkeit hat unsere Flexibilität vermutlich so trainiert, dass wir das Empire zumindest im Binnenmarkt zu halten vermögen. Kurzum – ein wenig Gelassenheit wäre kein falsches Rezept, im Umgang mit – hinlänglich bekannten – britischen Eigenständigkeitsübungen.
Toleranz und Flexibilität, Respekt vor anderen Herangehensweisen und traditionell-geschichtlichen Erfahrungen waren und sind der Stoff, aus dem alle europäischen Erfolge auf diesem unruhigen Kontinent gewachsen sind.
Verstärkte Zusammenarbeit
Dass unser buntes Europa sich nicht ohne weiteres auf ein in Beton gegossenes Integrationsziel festnageln lassen würde, ahnte man schon 1997, als man den Reformvertrag von Amsterdam aushandelte. Dort schuf man einen raffinierten Mechanismus, der es bestimmten Gruppen von Staaten ermöglicht, in Einzelfragen ohne die anderen enger zu kooperieren und in Teilbereichen Nägel mit Köpfen zu machen.
Die Rede ist von dem seither in den EU-Verträgen verankerten Instrument der „Verstärkten Zusammenarbeit". Anders als die „zwei Geschwindigkeiten", die nicht definiert sind und sich auch außerhalb des europäischen Vertragsrechts, etwa auf der Basis des allgemeinen Völkerrechts, einen Rahmen schaffen können, haben wir es hier mit einem europarechtlich streng strukturierten Verfahren zu tun. Über diesen Mechanismus können mindestens neun Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Verträge Rechtsakte setzen, die dann auch nur in diesen Mitgliedstaaten gelten. Dazu nehmen diese Staaten die Verfahren und Organe der EU in Anspruch. Der institutionelle Rahmen der EU bleibt also gewahrt. Stimmberechtigt aber sind im Rat der EU nur diejenigen Staaten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen. Weitere Mitgliedstaaten können sich der Zusammenarbeit jederzeit anschließen.
Die im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit beschlossenen Maßnahmen sind nur zwischen den Teilnehmern verbindlich, werden nur von ihnen finanziert und werden nicht Bestandteil des acquis communautaire (Art. 20 Abs. 4 EUV).
Dass dieser Ansatz funktioniert, zeigen Beispiele aus jüngerer Zeit: so hat die EU das Scheidungsrecht bei binationalen Ehen vereinfacht. Deutschland und 13 weitere Staaten haben sich im Dezember 2010 auf eine dahingehende verstärkte Zusammenarbeit geeinigt. Wollen sich binationale Paare scheiden lassen, können sie künftig in diesen Ländern wählen, welches nationale Recht sie anwenden wollen.
Oder nehmen wir das Vorhaben, Finanzgeschäfte in der gesamten EU zu besteuern – was zunächst am Widerstand Großbritanniens und Schwedens gescheitert war. Daraufhin vereinbarte im Januar 2013 eine Gruppe von elf EU-Staaten, u.a. Deutschland, Frankreich, Österreich und Spanien, voranzugehen und eine solche Abgabe im kleinen Kreis einzuführen.
Im März 2014 scheiterte Großbritannien mit seiner Klage gegen die geplante Börsensteuer vor dem Europäischen Gerichtshof. Damit war der Weg frei. Im Mai 2014 beschlossen diese elf Länder, ab 2016 die Finanztransaktionsteuer einzuführen. Die Abgabe tritt schrittweise in Kraft und betrifft zunächst den Handel mit Aktien und einigen Derivaten.
Bewährungsfelder für eine intensivere Kooperation von Mitgliedstaaten, die auch ohne „die anderen" vorangehen möchten, sind jedenfalls vielfarbig und allgegenwärtig in unserer krisengeschüttelten EU.
Patentansatz in der Flüchtlingskrise?
Eine Reform des gescheiterten Dubliner Übereinkommens ist in Arbeit. Gut. Aber, eine Reform der materiellen Asyl- und Einwanderungsregeln in der EU ist nicht angedacht. Wieder einmal schleicht man um den zentralen Punkt wie die Katze um den heißen Brei.
Wäre es nicht erwägenswert, die verstärkte Zusammenarbeit an genau dieser Stelle nutzbar zu machen? Was eigentlich spricht dagegen, angesichts unüberschaubar gewordener Flüchtlingsströme die nationalen asyl-, migrations- und ausländerrechtlichen Vorschriften innerhalb der Schengen-Staaten rigoros zu harmonisieren? Erst auf einer solchen Basis hätte das von der EU-Kommission bis dato vergeblich angestrebte System einer Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten überhaupt eine ansatzweise realistische Chance.
Allerdings – gerade Deutschland müsste seine sozialen „Lockangebote" überdenken, den Familiennachzug mit dem Augenmaß einer gewissen Realpolitik einschränken und an seinen Grenzen neue Maßstäbe der Kontrolle und der beherzten Zurückweisung offensichtlich unbegründeter Migrationswünsche setzen. Illusorisch?
Um des Rechtsempfindens der gesamten Bevölkerung willen müsste Deutschland außerdem seine Abschiebepraxis um Welten effizienter gestalten – eine Praxis, die sogar die EU-Kommission zu Jahresbeginn 2016 als deutlich zu zögerlich und unentschlossen rügte. Von über 200 000 Ausreisepflichtigen wurden 2015 lediglich 18 000 abgeschoben, eine Bilanz, die der „Stern" im Januar 2016 als „politischen Offenbarungseid" bewertete.
So nicht: Der neue deutsche Sonderweg
Wie man unsere EU mit Sonderwegen auch gefährlich spalten kann, hat ausgerechnet die Bundesregierung im vergangenen Jahr krachend demonstriert. Der gegenüber der eigenen Bevölkerung verantwortungslose und zudem bewusst hingenommene Kontrollverlust an den deutschen Grenzen geriet im Herbst 2015 zum gloriosen deutschen Alleingang. Das Wort vom „deutschen Sonderweg" machte in Brüssel die Runde. Kein anderes EU-Land war bereit, dieser irrationalen Politik zu folgen. 27 EU-Staaten positionierten sich eindeutig gegen eine Politik des ungebremsten und ungeordneten Zuzugs von Flüchtlingen. Der in seiner Hilflosigkeit Bände sprechende deutsche Ruf nach einem „Schutz der Außengrenzen" hallte hohl wie von einem anderen Stern. Victor Orban warf der deutschen Bundeskanzlerin „moralischen Imperialismus" vor. Er traf den Nagel auf den Kopf. Umfragen zufolge hat eine nennenswerte Zahl von Brexit-Befürwortern gerade die Sorge umgetrieben, dass die auf dem Kontinent – sprich: in Deutschland – zu beobachtende unkontrollierte Einwanderung auch ihr Land bedrohen könnte.
27 zu eins – das hat weder mit „verstärkter Zusammenarbeit" noch mit „verschiedenen Geschwindigkeiten" irgendetwas zu tun. Die Schlüsselrolle in diesem Verwerfungs-Szenario spielt bis heute die deutsche Kanzlerin, die im offenen Widerspruch zu allen unübersehbaren Wünschen und Vorstellungen ihrer 27 Partner – und sogar Frankreichs – unbeirrt und einsam auf einem Sonderweg in ein für Deutschland eher konfliktträchtiges Abseits reitet – allerdings nicht ohne uns groteskerweise unermüdlich mit ihrem Ruf nach einer „Europäischen Lösung" abzulenken.
Kernelement der „Verstärkten Zusammenarbeit" – wie generell aller Ansätze der „verschiedenen Geschwindigkeiten" – muss unabdingbar die Prämisse des festen Willens bleiben, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen". Sonst geht der Kompass verloren. Sonst fehlt uns, wie es der Dichter Stefan George (1868 bis 1933) einmal ausgedrückt hat, „der mitte Gesetz": „Fehlt ihm der mitte Gesetz, treibt er zerstiebend ins All".