"Der Fleiß der sächsischen Industriearbeiter hat mein Leben tief beeinflusst"
mdw: Herr Prof. Hahn, wie kaum ein anderer europäischer Industriemanager ist Ihr Name aus politischen, aus wirtschaftlichen, aber vor allem auch aus familiären Gründen sehr eng mit der deutschen Geschichte und in jüngerer Zeit mit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung vor 25 Jahren verbunden. Sie wurden 1926 in Chemnitz geboren, entstammen einer alten Industriellenfamilie, die bereits mit den Anfängen des Automobilbaus in Deutschland verwachsen war. Ihr Vater, seit 1922 am Aufstieg von DKW in Zschopau zur führenden Motorradfabrik der Welt wesentlich beteiligt, gehörte 1932 zu den Mitbegründern der Auto Union aus dem Zusammenschluss von Audi, Wanderer, Horch und DKW. 1948 schließlich legte er mit Richard Bruhn und einem beispielhaften sächsischen Flüchtlings-Team aller Ränge und Fachrichtungen die Fundamente für die heutige Audi AG in Ingolstadt. Dies bedeutete für die stolze ehemalige Garnisonsstadt das große Los.
Wie haben Sie Ihr berufliches Leben, vor allem Ihre Kindheit und Jugend in Sachsen, unter dem Eindruck des Automobilbaues erlebt, der heute zu den führenden Wirtschaftszweigen der Welt gehört?
Carl H. Hahn: Wenn Sie einen Vater hatten, der die größte Motorradfabrik der Welt mit aufbaute, waren sie natürlich mit dem Motorrad verbunden. Wir wohnten damals neben der Motorradfabrik im engen Zschopau-Tal. Und ich erlebte als Kind welche Arbeit und Verantwortung mit der Position meines Vaters verbunden war. Man hört und versteht ja als Kind, wenn man den Erwachsenen lauscht, sehr viel mehr, als diese vermuten. In dieser unternehmerischen Atmosphäre bin ich aufgewachsen, was für mich ein großes Geschenk des Himmels war.
Ich habe dann, nachdem der furchtbare Krieg ausgebrochen war, auch schon als Schüler in den Ferien in Fabriken der Auto Union gearbeitet, nach einem „Schnellkurs“ in der Lehrwerkstatt. Das war eine der wichtigsten Weichenstellungen in meinem Leben, denn ich lernte dadurch die menschlichen und fachlichen Qualitäten des sächsischen Industriearbeiters kennen und schätzen, ihre Kameradschaft, ihren Fleiß und ihr unschlagbares Qualitätsbewusstsein. Dieser „menschlichen Basis“ vertraute ich auch als VW-Chef und blieb ihr bis zum heutigen Tag besonders verbunden.
mdw: Ein halbes Jahrhundert gestalteten Sie die Entwicklung von Volkswagen entscheidend mit. 11 Jahre, zwischen 1982 und 1993, übten Sie das Amt des Vorstandsvorsitzenden aus. Unter Ihnen wuchs das Unternehmen zum größten Automobilkonzern Europas heran, global aufgestellt für die Welt des 21. Jahrhunderts. In Ihre Amtszeit fiel auch die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten…
Carl H. Hahn: Ich habe auch später als Vorstandsvorsitzender am Band gearbeitet – leider nur zwei Mal – und außerdem immer den Kontakt zu den Menschen in der Fabrik gesucht. Besonders meine Jugenderfahrungen haben mir die Entscheidung leicht gemacht, sofort mit dem Fall der Mauer in die neuen Bundesländer zu eilen. Überall waren wir die Ersten. Wir gaben außerdem nach dem Mauerfall jedem DDR-Bürger, der nicht nur nach Wolfsburg, sondern nach Westdeutschland kam, eine Mobilitätsgarantie. Sie sollten sich ihr eigenes Bild von Westdeutschland machen können, ohne Risiko. Wolfsburg war ab November 1989 jeden Samstag und Sonntag voller DDR- Bürger. Gemeinsam mit der Stadt hatte Volkswagen deshalb interessante Besuchsprogramme zusammengestellt und kleine Geschenke vorbereitet. Mit anderen Worten: wir haben als Wolfsburger – damals nur 8 km vom gefährlichen Eisernen Vorhang entfernt – die Menschen aus der DDR mit offenen Armen und offenen Herzen empfangen. Dabei gab es viele Gelegenheiten, mit ihnen zu diskutieren, ihre Sorgen und Nöte zu erfahren. Dank West-Fernsehen und Verwandtschaft waren sie alle beeindruckend gut informiert.
mdw: Mit dem Fall der Mauer brach nicht nur für die DDR eine neue Zeit an. Der Westen profitierte von einem riesigen Konsumverlangen der Landsleute aus dem Osten. Wie stellte sich der Volkswagen-Konzern darauf ein?
Carl H. Hahn: Schon seit 1983 arbeitete Volkswagen vertraglich mit der DDR an einem Projekt zur Einführung einer neuen Motorengeneration für Trabant und Wartburg, die die völlig veralteten Aggregate – weiterentwickelte Motorrad-Zweitakter-Motoren noch aus der Zeit meines Vaters – ablösen sollten. Dadurch hatte ich schon lange vor der Wende gute Kontakte zum DDR-Außenhandelsminister Gerhard Beil und zum Generaldirektor des Industrieverbandes Fahrzeugbau (IFA) in der DDR, Dieter Voigt. Schon im Dezember 1989 gründeten Volkswagen und IFA aus diesem gemeinsamen Motorenprojekt heraus eine 50-50-Gesellschaft. Sie sehen daran schon das Verhältnis: die kleine IFA, das große Volkswagenwerk. Aber wir dokumentierten damit von vornherein unsere Philosophie einer Gleichberechtigung, die keine Verlierer auf der anderen Seite kannte.
Zu DDR-Zeiten hatten wir durch die Zusammenarbeit mit IFA leider feststellen müssen, dass die DDR nicht einmal mehr in der Lage war, selbst Schrauben für moderne Produkte in der notwendigen Qualität herzustellen. Mit anderen Worten: Wir erlebten während der Umsetzung unseres Motorenprojekts, in welch erschreckendem Maße diese Wirtschaft in den Jahren des Sozialismus, ohne Marktwirtschaft und Unternehmer, ruiniert worden war, obwohl die DDR genauso qualifizierte Ingenieure und Facharbeiter hatte wie der Westen. Obendrein fuhr man massenhaft Sonderschichten für den Sozialismus, was die DDR-Wirtschaft aber auch nicht mehr retten konnte. Die Partei war zum Vormund der Bürger geworden, die man aber nur mit Schießbefehl in Schach zu halten vermochte.
Dieses System der Gewalt, des Freiheitsentzugs und der Bevormundung zeichnete sich schließlich dadurch aus, dass es den Menschen immer schlechter ging, die Luft immer schlechter, die Lebenserwartung des DDR-Bürgers immer kürzer wurde, er aber gleichzeitig sein marodes System noch bei Aufmärschen feiern musste. Währenddessen lebten die Oberen dank Schalck-Golodkowski und dessen D-Mark-Beschaffung auf ihren abgesperrten „Inseln“ wie im Westen.
Als Normalbürger musste man dagegen in der DDR vier Jahre auf eine Hüftoperation warten, mehr als 12 auf einen Trabi. Für das Regime hatte ersteres den Vorteil, dass manche Patienten bereits vor dem Operationstermin gestorben waren. Um zu „sparen“, durften ab dem 60. Lebensjahr sogar bestimmte kostspielige Behandlungen gar nicht mehr vorgenommen werden. Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte sich der Niedergang der DDR, einschließlich des Verfalls der Infrastruktur, in den letzten 25 Jahren so fortgesetzt. Ich frage mich deshalb mit Nachdruck, wie es möglich ist, dass diese Versager-„Eliten“ der DDR, der SED-Partei mit neuem Namen, uns heute immer noch gute Ratschläge erteilen, koste es was es wolle? Wir sollten einmal Bilanz ziehen und darüber nachdenken, was die Wiedervereinigung für jeden Einzelnen gebracht hat. Ob das eine Rentnerin ist, die jetzt besser dasteht, ohne jemals in die Rentenkasse eingezahlt zu haben. Oder wenn ich mir heute beispielsweise in Magdeburg die Krankenhäuser ansehe, in die viele Patienten auch aus dem Westen gehen, weil dort alles so modern und perfekt ist. Diese Kliniken haben sich einen einzigartig guten Ruf aufgebaut. Das sind Dinge, die wir erinnern sollten, auch dank Ihrer Zeitschrift.
Ich glaube, dass auch Volkswagen in den 25 Jahren deutscher Einheit in den neuen Bundesländern etwas geleistet hat, wie die gesamte deutsche Wirtschaft, was man auch immer wieder erwähnen sollte. Der Volkswagen-Vorteil war, dass wir schnell handelten, sicheren Trittes kamen und hoch motiviert waren, nachdem wir über Jahrzehnte an der Schnittstelle des Kalten Krieges gelebt hatten.
mdw: Um das Stadtbild in der DDR, vor allem in Berlin, durch neue Autos aufzulockern, beschloss die DDR-Führung ja schon im tiefsten Sozialismus, lange vor der Wende, einen Wirtschaftspakt mit dem Westen. Am 30. November 1977 bestellte sie 10 000 VW Golf in Wolfsburg. Wie erlebte der VW-Konzern das deutsch-deutsche Geschäft damals?
Carl H. Hahn: Als mit der DDR das Golf-Geschäft vereinbart wurde, war ich nicht dabei. Ich befand mich zwischen 1972 und 1981 fast zehn Jahre in der „Emigration“ als Leiter der Continental AG in Hannover. 1982 kehrte ich dann zu Volkswagen zurück, wohl auf Vorschlag des Betriebsratsvorsitzenden Siegfried Ehlers, der damals im Aufsichtsratspräsidium des Unternehmens saß.
Honecker lernte ich bei seinem Staatsbesuch in der Bundesrepublik 1987 kennen. Zur DDR hatte ich, wie gesagt, aber vor allem Arbeitsverbindungen mit dem Außenhandelsminister Dr. Beil, was uns einen sehr realistischen Einblick in das marode System gab. Allein schon der technische Rückstand der DDR verzögerte unser Motorenprojekt um Jahre und kostete die DDR-Volkswirtschaft schließlich zehnmal mehr als geplant: Die DDR hatte den Anschluss an die technische Entwicklung der Welt verloren.
mdw: Sie führten Volkswagen als Vorstandsvorsitzender zum Weltkonzern. Ende 1990 stieg VW bei den tschechischen Skoda-Werken ein, die neben VW, Audi und Seat zur vierten Marke im Konzern wurde…
Carl H. Hahn: Die Übernahme von Skoda war einer der wichtigsten Schritte, die wir in Europa vollzogen. Wir hatten damals die französische Regierung gegen uns, die auf eine nicht sehr vornehme Art die tschechische Regierung gegen uns unter Druck setzte. Ich wusste schon von meinem Vater, dass Skoda ein Kleinod der Automobilindustrie war – mit einer stolzen Geschichte vor dem Zweiten Weltkrieg und hervorragenden Ingenieuren und Fachkräften. Dank Volkswagen ist Skoda heute ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der Tschechischen Republik. Das Unternehmen verkauft übrigens inzwischen allein in China mehr Autos als es vor unserer Zeit jährlich hergestellt hatte. Das zeigt, was ein Verbund mit dem VW-Konzern für unsere Partner im gesamten ehemaligen COMECON bedeutet, abgesehen von den Chancen für die Mitarbeiter, in die Welt hinauszukommen. So kann sich Prag glücklich preisen, den außenpolitischen Mut gehabt zu haben, auf Volkswagen zu setzen.
mdw: In Chemnitz geboren, war Ihnen der Neuanfang 1990 an den alten Produktionsstätten der Automobilindustrie in Zwickau und Chemnitz ein besonderes Anliegen. Am 21. Mai 1990 lief in der Montagehalle des IFA-Kombinates PKW im damals noch selbstständigen Mosel bei Zwickau der erste in der DDR montierte VW Polo vom Montageband. Am 26. September 1990 legten Bundeskanzler Helmut Kohl und Sie als Vorstandsvorsitzender von Volkswagen in Mosel den Grundstein für eine neue Automobilfabrik…
Carl H. Hahn: Der Trabant mit VW-Motor war ein großer Schritt für die DDR, aber insgesamt immer noch weit entfernt von einem modernen Automobil. Deshalb hatten wir Minister Beil auch eine zum Motor passende Karosserie vorgestellt. Aber für einen solchen Schritt fehlte der DDR ganz einfach die wirtschaftliche Kraft, hatte sie doch bereits unser Motorenprojekt überfordert. Zumindest erfüllte der VW-Motor jedoch sein Versprechen der Umweltschonung und Kraftstoffeinsparung. Ich habe selbst einen der letzten Viertakt-Trabant privat gekauft. Da nach der Wende kein Mensch zu keinem Preis mehr dieses Auto haben wollte, musste die Produktion eingestellt werden. Ersatzteile für diesen Wagen fand man nunmehr auf den Schrottplätzen.
Zentrales Element unserer Strategie war es, uns in der Regel nicht von unseren Lieferanten aus Westdeutschland beliefern zu lassen. Wir gaben der sächsischen Zulieferindustrie damit die Chance, Anschluss zu finden. So wurde auch der Standort unserer Fabriken in Sachsen wechselseitig optimiert. Die ostdeutsche Zulieferindustrie besaß eine gewachsene Tradition, nicht nur im Erzgebirge, sondern auch in Sachsen-Anhalt bis zum Harz. Diese Politik hatten wir bereits vor der Wende eingeleitet. So kamen beispielsweise Golf-Scheinwerfer schon seit 1978 überwiegend aus Eisenach, während wir Karosseriepressen aus Erfurt bezogen. Unsere Partner brachten wir so auf internationales Wettbewerbsniveau.
Der Wiederaufbau der Zulieferindustrie in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt hat – neben dem Maschinenbau und der Werkzeugindustrie – wesentlichen Anteil daran, dass es den Menschen dort, gemessen an der Kaufkraft, teilweise bereits ähnlich gut geht wie ihren Landsleuten im Westen. Niedrigere Löhne werden durch niedrigere Lebenshaltungskosten ausgeglichen.
Neun Monate nach dem Fall der Mauer hatten wir das Heizkraftwerk in Mosel bei Zwickau auf Gas umgestellt. Ab diesem Zeitpunkt konnten die Leute auch wieder gesunde Luft einatmen.
mdw: Heute, mit 89 Jahren, sind Sie fit, strahlen eine große Vitalität aus und sind noch immer in zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Gremien auf der ganzen Welt aktiv. Und oft in den neuen Bundesländern unterwegs. Wie erleben Sie Ostdeutschland ein Vierteljahrhundert nach der Deutschen Einheit?
Carl H. Hahn: Wenn ich in Ostdeutschland bin, unter anderem auch bei der Sachsen-Classic-Rallye, erlebe ich – wie im Übrigen jeder Teilnehmer aus Europa – wie die Menschen am Straßenrand ihre Verbundenheit mit der Kraftfahrzeugindustrie dokumentieren. Diese Tradition macht stolz, schafft Freude; und Freude an der Arbeit produziert ja etwas sehr Wichtiges, nämlich Kreativität, neue Ideen. Wer seine Arbeit liebt, übt sie auch mit Begeisterung aus, lehrte schon Konfuzius vor ein paar tausend Jahren. Diese Eigenschaften zeichnen die Sachsen aus.
Wenn man jetzt die Erfolge sieht, und wie gut es den Menschen geht, besser denn je in unserer Geschichte, dann ist man doch sehr, sehr glücklich darüber. Hinzu kommen für mich persönlich die Sympathien, die man mir entgegenbringt. Das Schicksal hatte uns damals eine Chance gegeben, die wir dank motivierter VW-Teams in der ganzen Welt zu nutzen verstanden, ob in Argentinien, Brasilien, Mexiko, China, Tschechien, der Slowakei oder Polen. Es gab wohl kaum ein Automobilunternehmen, ja ein Unternehmen überhaupt, das nach der Öffnung Chinas und dem Ende des Kalten Krieges so viele Projekte rund um den Globus praktisch parallel begann und erfolgreich durchführte wie der VW Konzern. Wir gaben damit den betreffenden Ländern gleichzeitig entscheidende Impulse für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Integration in die Weltwirtschaft. Der Ausgangspunkt zu all dem liegt aber in der wirtschaftlichen Vereinigung Europas, auch wenn wir noch längst nicht am Ziel angelangt sind, um die vielen Früchte, die politischen und menschlichen Ergebnisse ernten zu können.
Ich habe auch heute noch eine aktive Verbindung zur Sächsischen Hochschule Zwickau. Darüber hinaus fühle ich mich mit der Saxony International School – Carl Hahn in Glauchau verbunden, die dank unserer Philosophie zu einer der besten Schulen in Sachsen und Deutschland geworden ist. Wir haben dort derzeit 3 300 Kinder und Jugendliche, davon die Hälfte in Kindergärten. Unsere Schüler erhalten einzigartige Lebenschancen für die Welt von morgen. Vergessen wir nicht, schon heute besteht die Weltbevölkerung zu 60 Prozent aus Menschen Asiens. Sehr bald werden unsere Kinder in einem Deutschland leben, das weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen wird.
Alle Schulen der Saxony International School Carl Hahn sind international miteinander verknüpft. Die Kinder, die in unsere Kitas gehen, lernen schon dort auf spielerische Weise und mit Begeisterung Lesen, Schreiben, Rechnen und Englisch. Ziel ist es dabei, auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse die intellektuellen Potenziale aller Kinder bestmöglich zur Entfaltung zu bringen. Man braucht nur ihre angeborene Neugier zu wecken, um sie glücklich zu machen. Unsere Ergebnisse sprechen für sich und bereiten Freude. Wir sind ein Kleinod und kämpfen darum, dass man dieses Konzept allen Kindern zur Verfügung stellt. Denn die Welt von morgen braucht höchst qualifizierte und motivierte Menschen.
Mit Carl H. Hahn sprach
Chefredakteur André Wannewitz