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Das Schengener Abkommen - freie Fahrt für alle?

Dr. Hans Jörg Schrötter

„Schengen“ – ein oft zitiertes Zauberwort. Es steht für einen Quantensprung auf dem Weg in die Freizügigkeit auf unserem Kontinent. In Zeiten ganz offensichtlich nicht mehr beherrschbarer Flüchtlingsströme ist es andererseits nicht mehr ausschließlich positiv besetzt. Begonnen hat das Ganze im beschaulichen luxemburgischen Städtchen Schengen. Dort vereinbarten am 14. Juli 1985 die Regierungen der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs nichts Geringeres als den – aus damaliger Sicht kaum zu glauben – vollständigen Wegfall der systematischen Personenkontrollen an ihren gegenseitigen Binnengrenzen.

Dieses „Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ – kurz: Schengener Abkommen – hat man 1990 durch das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) ergänzt. Und am 26. März 1995 war es dann tatsächlich soweit: das SDÜ wurde in den fünf Gründerstaaten sowie in Portugal und Spanien in Kraft gesetzt. Ab diesem Zeitpunkt entfielen ganz konkret die Personenkontrollen an den gegenseitigen Binnengrenzen dieser sieben Staaten. Flugreisende wurden ab diesem Stichtag auf Flügen innerhalb dieser „Schengen-Staaten“ nicht mehr kontrolliert und an den Inlandterminals abgefertigt.

Österreich und Italien setzten das SDÜ am 1. April 1998 in Kraft; Griechenland folgte 2000. Schweden, Finnland und Dänemark wenden das SDÜ seit 2001 an.

All dies vollzog sich zunächst auf der Basis völkerrechtlicher Verträge. Erst mit dem Amsterdamer Vertrages wurde 1999 der sog. Schengen-Besitzstand, also das SDÜ und alle Strukturen der Schengen-Kooperation, in das allgemeine EU-Recht überführt. Damit waren auch die mit der Osterweiterung 2004 sowie 2007 der Europäischen Union beigetretenen Staaten an die Schengen-Bestimmungen gebunden. Aber Achtung: Die Personenkontrollen fallen immer erst dann tatsächlich weg, wenn sichergestellt ist, dass die im SDÜ vereinbarten Ausgleichsmaßnahmen von den jeweiligen Staaten effizient und vollständig angewendet werden.

Auf dieser Basis konnte man den neuen EU-Staaten Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und der Slowakei 2007 die völlige Öffnung der Binnengrenzen zugestehen – möglicherweise zu früh, wie kritische Stimmen angesichts einer erheblich wachsenden Binnenmigration von östlichen in westliche EU-Staaten anmerken.

Die EU-Länder Bulgarien, Zypern, Rumänien und Kroatien sind noch keine Vollmitglieder des Schengen-Raums; die Grenzkontrollen zwischen diesen Ländern und den Schengen-Staaten werden bisher aufrechterhalten.

Dass das Projekt fasziniert, lässt sich auch daran erkennen, dass sogar Nicht-EU-Staaten dabei sein wollen. Schon 1996 haben auch Island und Norwegen die Bestimmunen von Schengen vollständig übernommen. 2004 hat sich – man höre und staune – sogar die Schweiz dem Schengen-Verbund angeschlossen. 2011 trat schließlich Liechtenstein dem Schengen-Raum bei.

Irland und Großbritannien sind keine Partner des Schengener Abkommens. Sie erteilen keine Schengen-Visa und verzichten vor allem nicht auf Grenzkontrollen. Dänemark entscheidet von Fall zu Fall, ob es sich Weiterentwicklungen des Schengener Besitzstands auf völkerrechtlicher Grundlage anschließt, ist aber an bestimmte Maßnahmen im Bereich der gemeinsamen Visa-Politik gebunden.

Jeder EU-Bürger kann die Binnengrenzen, also die gemeinsamen Grenzen zwischen zwei Schengen-Staaten, zu jeder Zeit und an jedem Ort ohne Kontrollen überqueren. Die Pflicht, einen nach nationalen Regeln gültigen Pass oder Personalausweis mit sich zu führen, bleibt aber bestehen.

Auch Ausländer, die nicht Bürger der Europäischen Union sind – sog. Drittstaatsangehörige –, können innerhalb der Vertragsstaaten die Freizügigkeit nutzen, sofern sie eine für ein Schengen-Land gültige Aufenthaltserlaubnis (Visum) haben; für sie ist der Aufenthalt im Vertragsgebiet auf drei Monate begrenzt. Welche Staaten außerhalb der Europäischen Union als visapflichtig und welche als visafrei gelten, haben die Schengen-Partner im Zuge einer gemeinsamen Visapolitik festgelegt.

 

Ausgleichsmaßnahmen

Das SDÜ beseitigt nicht nur die Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Vertragsstaaten, es sieht vor allem auch Ausgleichsmaßnahmen vor, die verhindern sollen, dass es angesichts offener Binnengrenzen zu Defiziten für die innere Sicherheit kommt. Der Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen soll – so der seinerzeit fromme Wunsch – durch verstärkten Schutz der Außengrenzen des Schengen-Raumes ausgeglichen werden. Diesem Zweck dienen u.a. folgende Sicherheitsmaßnahmen:

1. Ein international vernetztes elektronisches Fahndungssystems, das Schengener Informationssystem (SIS) mit Daten u. a. über:

■ Ausländer, denen die Einreise in das Schengen-Gebiet zu verweigern ist,

■ Personen, die zur Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung gesucht werden,

■ vermisste oder hilflose Personen und gestohlene Fahrzeuge, Dokumente oder sonstiges Diebesgut.

Das SIS unterteilt sich in das Zentrale System (C.SIS) in Straßburg und die verschiedenen nationalen Systeme (N.SIS); für Deutschland wird das N.SIS beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden geführt.

2. Die intensivierte Kontrolle der Außengrenzen einschließlich der Flug- und Seehäfen.

3. Vereinbarungen hinsichtlich der polizeilichen Zusammenarbeit zwischen den Partnerstaaten des SDÜ. Beamte der nationalen Polizeibehörden dürfen strafverdächtige Personen auch auf dem Gebiet anderer Schengen-Staaten unter gewissen Auflagen observieren sowie flüchtige Verbrecher oder Tatverdächtige über die Grenzen in das Nachbarland hinein verfolgen („Nacheile“).

4. Erleichterungen im Rahmen der Zusammenarbeit der Justiz. Die Verfahren der internationalen Rechtshöfe, insbesondere bei Auslieferungen und Strafvollstreckungen wurden vereinfacht und damit beschleunigt.

 

Grenzkodex

Mit der europarechtlichen Verordnung 562/2006/EG vom 15. März 2006, dem sog. Schengener Grenzkodex, wurden Regeln für das Überschreiten der Außengrenzen und die – temporäre – Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen festgelegt:

1. Die Außengrenzen dürfen nur an den Grenzübergangsstellen und während festgesetzter Zeiten überschritten werden.

Unionsbürger und andere Personen, die das Recht auf freien Personenverkehr innerhalb der EU genießen (beispielsweise Familienangehörige eines Unionsbürgers), werden einer Mindestkontrolle unterzogen. In einer raschen und einfachen Prüfung wird ihre Identität anhand ihrer Reisedokumente festgestellt.

Drittstaatsangehörige werden eingehend kontrolliert. Die Kontrolle umfasst die Einreisevoraussetzungen einschließlich einer Überprüfung im Visa-Informationssystem (VIS) sowie gegebenenfalls die für den Aufenthalt und die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse.

Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten je Sechsmonatszeitraum muss ein Drittstaatsangehöriger folgende Voraussetzungen erfüllen:

• Er muss im Besitz eines Reisedokuments sein.

• Er muss, falls vorgeschrieben, im Besitz eines Visums sein.

• Er muss den Zweck des beabsichtigten Aufenthalts belegen und über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen.

• Er darf nicht im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.

• Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines EU-Mitgliedstaats darstellen.

Erfüllt ein Drittstaatsangehöriger diese Voraussetzungen nicht, wird ihm vorbehaltlich besonderer Bestimmungen – z. B. bei humanitären Gründen – die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Jedenfalls auf dem Papier; dass die Realität inzwischen dramatisch anders aussieht, belegen uns tägliche Berichte und Fernsehbilder überdeutlich.

Die Reisedokumente von Drittstaatsangehörigen werden bei der Ein- und Ausreise systematisch abgestempelt. Ist das Reisedokument nicht mit dem Einreisestempel versehen, kann angenommen werden, dass sein Inhaber die geltenden Voraussetzungen für den Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllt. Die operative Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten wird durch die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten – Stichwort FRONTEX – koordiniert.

2. Die Binnengrenzen darf jede Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit an jeder Grenzübergangsstelle ohne Personenkontrollen überschreiten. Die Polizei ist befugt, in den Grenzgebieten Kontrollen wie im übrigen Hoheitsgebiet durchzuführen, sofern diese nicht die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben. So kontrolliert die Bundespolizei zwar nicht mehr systematisch an den Grenzposten, aber mobil in einer 30-Kilometer-Zone hinter der deutschen Grenze – was bei einer Grenzlänge von 3 757 Kilometern eine kaum effizient zu meisternde Herausforderung bedeutet.

Offene Grenzen – Einfallstor für ungeahnte Wanderungsströme? Personen und Waren können heute also von Palermo auf Sizilien bis nach List auf Sylt gelangen, ohne ein einziges Mal kontrolliert zu werden. Und obwohl die Grenzen als Filter für Kriminelle wegfallen, hat man redlich versucht, die Belange der inneren Sicherheit durch ein nennenswertes Maß an grenzübergreifender Kooperation auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung und der polizeilichen Zusammenarbeit zu berücksichtigen.

Aber dann passierte es. Ungeahnte Wanderungsströme setzten ein. Die sog. „Flüchtlingskrise“ stellt seit dem Sommer 2015 alles Kommentierbare in den Schatten. Ernstzunehmende Medien sprechen bezeichnenerweise inzwischen unverholen von „Völkerwanderung“ – auf die Europa sich leider nicht vorbereitet hat. In gespenstischer Analogie zum zentralen Konstruktionsfehler der Eurozone, dem Fehlen eines gemeinsamen Finanzregimes, offenbarte sich auch hier ein fundamentales Defizit der Schengener Verheißung der offenen Grenzen: ein gemeinsames Zuwanderungs- und Asylregime gab – und gibt – es nicht. JederSchengen-Staat lebt seine ganz eigenen Anerkennungsregeln, Aufnahmeregeln, Abschieberegeln. Im europäischen Vergleich bilden die deutschen Sozialstandards, die extrem langen Antragsbearbeitungszeiten und die eher dezente Abschiebepraxis seit längerem besonders beachtete „Lockfaktoren“.

Kurzum: Jedes Schengen-Land wendet bei der Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen, bei Anerkennung oder Abschiebung diametral andere Mäßstäbe an. Und so suchten sich die Flüchtlinge – wie es „Ströme“ an sich haben – die Kanäle, wo es sich am leichtesten fließen lässt. Im Falle Deutschlands erwies sich die zusätzliche Komponente eines überaus großzügigen sozialen Versorgungssystems und Bargeldtransfers an jeden Ankömmling als herausragendes Attraktionselement. Als aber im September 2015 Bilder von Empfangsszenen am Münchner Hauptbahnhof sogar im Afghanischen Fernsehen gezeigt wurden und die Welt teils staunend, teils verständnislos eine „Willkommenskultur“ bewundern konnte – da mutierte Deutschland vom redlichen Problemlöser zum Problemverstärker, zum Erzeuger eines „Sogeffekts“, der keinen Flüchtling in egal welchem Lager dieser Welt kalt lassen konnte.

Einen zusätzlichen Wendepunkt markierte die völlig unhaltbare Situation am Budapester Hauptbahnhof. Die ungarische Administration, überfordert und verärgert, hielt weit mehr als 3 000 über Mazedonien und Serbien ins Land gekommene Flüchtlinge fest. Als der vielgeschmähte Ministerpräsident Victor Orban am 3.September 2015 die Lage mit den Worten präzisierte, dies sei „kein europäisches, sondern ein deutsches Problem“, traf er den Kern. Denn – das eigentliche Ziel dieser Menschen war klar. Und nun verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie alle ohne jegliche Formalitäten in Deutschland aufzunehmen. Einfach so. Unter Missachtung verbindlicher Dublin-Regeln. Ohne Rücksprache mit der heimischen Bevölkerung. Ohne Rücksprache mit den unendlich vielen freiwilligen Helfern, auf deren Rücken das gesamte Politikversagen seit Wochen ausgetragen wurde.

Ein neues Signal war gesetzt: „Deutschland nimmt alle auf“ oder „Deutschland kennt keine Asyl-Obergrenzen“ – so ging es um die Welt. Tausende strömten Richtung Germania, suchten sich ihre Balkanrouten selbst, erst über Ungarn, dann über Kroatien und durch Slowenien. Allein in Österreich kamen über das Wochenende des 19. und 20. September 2015 rund 22 000 Flüchtlinge an. Mit anderen Worten: der deutsche „Einladungseffekt“ bescherte ganz Südeuropa chaotische Zustände und albtraumartige Szenen an ihren Grenzen. Ein deutsches Problem?

Verschwiegen werden aber darf ebensowenig, dass speziell bei der Sicherung der Außengrenzen seit Jahren einiges erheblich im Argen liegt. Nur – wo sind die Lösungen?

 

Lösungen? Fehlanzeige!

Im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit kann nach dem Schengener Grenzkodex ein Mitgliedstaat für einen begrenzten Zeitraum an seinen Binnengrenzen wieder Grenzkontrollen einführen. Hierüber setzt er die anderen Mitgliedstaaten, die EU-Kommission und das Europäische Parlament umgehend in Kenntnis. Angesichts völlig unkontrollierbar gewordener Flüchtlingsströme machte Deutschland von dieser Möglichkeit Gebrauch – mit dem „Erfolg“, dass die Menschen nun zu Fuß und über grüne Grenzen einwandern. Nach einem Bericht von rbb vom 24. September 2015 überqueren  täglich Tausende von Österreich kommende Flüchtlinge bei Freilassing die Brücke nach Bayern. Tausende. Täglich. Selbst Grenzkontrollen fallen als Lösungsansätze also aus.

Gibt es andere? Schon im Mai 2015 hatte die Europäische Kommission einen fairen Vorschlag unterbreitet, der auf eine gerechte Verteilung der in die EU strebenden Flüchtlinge auf alle Migliedstaaten zielte. Ein Vorschlag, über dem in großen Lettern das Wort „Solidarität“ prunkte. Leider aber war dieser Vorschlag dreifach nicht zuende gedacht:

Zu allererst bedeutet er nichts anderes als ein vordergründiges Kurieren an Symptomen. Mietparteien, die bei einem Wasserrohrbuch ausschließlich darüber streiten, wer einen wie großen Eimer drunter stellen muss, gehören ins Kabarett. Zum zweiten stieß der Kommissionsvorschlag traurigerweise in das Wespennest nationaler Egoismen. Verschiedene Länder lehnten ihn kategorisch ab. „Europa á la carte“ ließ grüßen. Zum dritten und vor allem aber ist „Verteilung“ im Kern ein rein akademisches Thema. Flüchtlinge, Menschen, Migranten lassen sich im Zweifel nicht „verteilen“. Sie gehen dorthin, wohin sie wollen. Wer Grenzen und Sperren und sogar das Mittelmeer überwindet, der lässt sich nicht irgendwo eintopfen wie eine Vorgarten-Hortensie. EU-Kommissar Günter Oettinger traf den Kern, als er am 12. September 2015 erläuterte, dass ohne eine Anpassung der materiellen Zuwanderungs- und Asylregelungen in den 28 Mitgliedstaaten der Wunsch nach Verteilung eine Chimäre sei. Diese Anpassung aber ist am Horizont nicht sichtbar. Hier müsste allen voran Deutschland sich bewegen und seine an Realitätsverweigerung grenzenden Lockeffekte überdenken.

Kurzum: eine echte Europäische Zuwanderungspolitik hat es in den vergangenen Jahrzehnten allenfalls in dezenten Ansätzen gegeben. Angesichts der Tatsache aber, dass Afrika ein Kontinent von 1,136 Milliarden Einwohnern ist und die uns bereits heute überfordernden Wanderungsströme ohne „Ermüdungserscheinungen“ über die nächsten Jahrzehnte anhalten, wenn nicht noch anschwellen könnten, sind angesichts dieser Perspektive alle bisherigen europäischen Ansätze lediglich Andeutungen.

Oder Wunschdenken – wie beispielsweise der wie ein ständiges Mantra bemühte Hinweis, man müsse eben „die politische und wirtschaftliche Situation in den Herkunftsländern verbessern“? Ganz einfach und im Handumdrehen die Lebenschancen in den Urspungsländern attraktiv gestalten? Ein scheinbar schlüssiges Patentrezept. Nur – solange es eine Entwicklungspolitik der EU gibt (nämlich seit 1957), hat dieses Rezept auf ganzer Linie versagt. Schon der Blick auf die nahen Länder des Balkans entlarvt ein solches Herkunftsland-Kurieren als Scheinkonzept. Länder wie Kosovo, Albanien und allen voran Serbien sind seit mehreren Jahren Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern. „Wer hofft“, so die FAZ am 10. Juli 2015, „Fluchtursachen durch mehr Engagement in den Ländern Afrikas und Asiens rasch bekämpfen zu können, wird auf dem Balkan eines besseren belehrt: dort versucht die EU schon seit zwanzig Jahren, die Lage zu verbessern, indem sie politische und wirtschaftliche Reformen unterstützt“.

Am 2. Mai 2015 schrieb der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg: „Dass mit einem Mehr an Entwicklungshilfe, was immer sonst dafür sprechen mag, in den Fluchtländern und Fluchtregionen in überschaubaren Zeiträumen Verhältnisse geschaffen werden könnten, die wirksam zum Bleiben einladen, ist nach aller Erfahrung reines Wunschdenken“.

Nein – hier stehen uns Entwicklungen mit ungeahnten Konsequenzen für unseren Zusammenhalt, unsere sozialen Vorstellungen und unser gesamtes gesellschaftliches Gefüge bevor. Offene Grenzen haben ihren Preis. Übersteigt der Preis heute bereits den Nutzen? Eines der besonders wertvolle Geschenke unserer Integration, die Freizügigkeit, steht heute auf dem Prüfstand. Scheitert die Freizügigkeit, scheitert dann Europa? Oder – scheitert Europa an der Freizügigkeit?


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