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Europäische Struktur- und Regionalpolitik neu justiert

Dr. Hans Jörg Schrötter

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel klingt fast ein bisschen bescheiden: „Die Europawahl hat gezeigt: Europa ist kein Selbstläufer. Europa braucht mehr Wachstum und Beschäftigung, um für seine Bürgerinnen und Bürger eine bessere Perspektive und Zukunft zu schaffen.“ Gemeint ist nicht „Europa“, sondern die Europäische Union. Und was er als Zaubermittel anbietet, sind „Reformen und Investitionen“. Und damit ist er dort, wo er hin will: bei den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds, denen, so der Minister, „dabei eine wichtige Aufgabe zukommt“.

Kurzum: Am 22. Mai 2014 hatte die EU-Kommission nach über zweijährigen Verhandlungen zwischen Bund, Ländern, EU-Kommission und Vertretern der Zivilgesellschaft die deutsche „Partnerschaftsvereinbarung als nationale Strategie zum Einsatz der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF) genehmigt. Damit war der Weg frei für Investitionen in den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt in Höhe von insgesamt 27,5 Milliarden Euro, die Deutschland in der neuen Förderperiode 2014 bis 2020 aus diesen ESIF erhält.

Daher war der Bundeswirtschaftsminister, als er am 6. Juni anlässlich der Auftaktveranstaltung in sein Ministerium zum Start dieser neuen Förderperiode einlud, auch ein bißchen stolz. Wie schön, dass es nun im europäischen Begriffsdickicht ein neues Kürzel gibt! ESIF – nicht zu verwechseln mit ESEF oder ESM oder ESEM oder ähnlichem. Im newcomer-Kürzel ESIF sind verschiedene Fonds zusammengefasst, die als Steuerungsinstrumente für die gemeinsame Regional- und Sozialpolitik von immenser Bedeutung sind. Je nach Zielrichtung dieser Fonds nennt man sie den Europäischen Sozialfonds, den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes, und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds.

 

Der Sozialfonds (ESF)

Der Europäische Sozialfonds (ESF) ist das älteste und wichtigste Instrument zur Verteilung sozialer Ausgleichszahlungen innerhalb der Europäischen Union. Als einer der drei Strukturfonds der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde er mit Inkrafttreten der Römischen Verträge 1957 ins Leben gerufen. Zusammen mit „Regionalfonds" und „Agrarfonds" soll er laut EG-Vertrag zum „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt" der Union beitragen. Die rechtlichen Grundlagen finden sich heute in den Artikeln 146 ff EG-Vertrag.

Ziel des ESF ist es, Arbeitsplätze zu schaffen, die Menschen bei Ausbildung und Qualifizierung zu unterstützen und Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. Im Zusammenhang mit der Vollendung des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes wurde der ESF weitreichend reformiert.

Förderperioden:

Bilanz:

Heute werden aus dem ESF vor allem auch arbeits- und sozialpolitische Maßnahmen des Strukturfonds kofinanziert. Neben der Konzentration der Hilfen auf bestimmte Zielgruppen werden vom Strukturwandel bedrohte Wirtschaftsbereiche und wirtschaftlich unterentwickelte Regionen besonders berücksichtigt.

Dennoch ist der Bekanntheitsgrad dieses Förderinstruments eher gering. Die Europäische Kommission sah sich daher veranlasst, im Rahmen einer Initiative für mehr Bürgernähe und Transparenz europäischer Politik künftig die für jedes Vorhaben bewilligte Summe im Internet zu veröffentlichen.

Seit über 50 Jahren leistet der ESF einen nennenswerten Beitrag zum sozialen Zusammenhalt in Europa. Aus seinen Mitteln sind bereits Millionen von Menschen unterstützt worden.Die Mittel aus dem ESF werden innerhalb eines zeitlichen Rahmens bereitgestellt. Die aktuelle Periode läuft von 2014 bis 2020. Schwerpunkte legt sie auf die Förderung der Beschäftigung und Mobilität, auf Bildung, Kompetenzen und lebenslanges Lernen sowie auf soziale Inklusion und Armutsbekämpfung.Europäische Sozialpolitik

Seit 1961 existiert bereits die Europäische Sozialcharta des Europarats. Seinerzeit haben sich die Vertragsstaaten in Turin verpflichtet, mindestens fünf der sieben verbrieften Sozialrechte bindend anzuerkennen: Recht auf Arbeit; Vereinigungsrecht; Recht auf Kollektivverhandlungen und Streikrecht; Recht auf soziale Sicherheit; Recht auf Fürsorge; Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz; Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand.

Grundlage der Sozialpolitik der EU ist die Verankerung sozialpolitischer Ziele und Handlungsermächtigungen in Artikel 42 sowie den Artikeln 136 bis 146 EG-Vertrag. Ein herausragendes Instrument bildet der bereits 1958 ins Leben gerufene Europäische Sozialfonds (ESF).

Es fing bescheiden an. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 nennt in nur sehr begrenztem Umfang sozialpolitische Ziele. So u. a. die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, gleiches Entgelt für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit, den Austausch junger Arbeitnehmer (Jugendaustausch), die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Arbeitsrecht, in der beruflichen Ausbildung und der Sicherheit am Arbeitsplatz sowie die soziale Absicherung der Wanderarbeitnehmer in einem anderen Land der Gemeinschaft.

Trotz solcher rühmlichen Vorgaben blieb die Sozialpolitik lange ein Stiefkind des Integrationsprozesses. Zu unterschiedlich waren – und sind – die Traditionen, Konzeptionen und ökonomischen Ausgangsbedingungen der Mitgliedstaaten.

Auch in der heutigen Europäischen Union (EU) ist der Weg zu einer Art „Sozialunion" noch weit. Zentrale Bereiche des Arbeits- und Sozialrechts sind – und bleiben wohl auf absehbare Zeit – rein national geregelt. Die Konkurrenz unterschiedlicher Sozialsysteme ist und bleibt also auch längerfristig europäische Realität, selbst innerhalb der EU-Staaten, die sich seit dem 1. Januar 1999 zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zusammengeschlossen und gemeinsam den Euro („Euro-Land") als Währung eingeführt haben.

Die innerhalb der EU zum Teil markant divergierenden nationalen Sozialsysteme entfalten natürlich eine nicht geringe wettbewerbspolitische Relevanz. Gerade Deutschland mit seinem beispielhaften sozialen Netz – und seinen beispiellos hohen Lohnnebenkosten – stößt hier zunehmend an seine Grenzen – insbesondere sei aus aktuellem Anlass auf die hohe Attraktivität unseres Landes als Zielland für Flüchtlinge und Migranten hingewiesen. Wir zählen hierzulande inzwischen die meisten Asylbewerber. Weltweit. In absoluten Zahlen.

Auch wenn sich die Mitgliedsstaaten bis heute weitgehend Grundprinzipien und inhaltliche Gestaltung ihrer jeweiligen Sozialpolitik im Rahmen ihrer nationalen Kompetenz vorbehalten, so sind doch bemerkenswerte Schritte hin zu einer Kohärenz sozialpolitischer Ziele und Leitlinien zu verzeichnen. Die Entwicklung lässt sich in Etappen gliedern:

1974 wurde mit dem ersten „Sozialen Aktionsprogramm" immerhin die grundsätzliche Befugnis der (damaligen) Europäischen Gemeinschaft (EG) zum Erlass sozialpolitischer Vorschriften akzeptiert.

Erst mit der Perspektive eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes, der neben Vorteilen auch verschärfte Konkurrenzsituationen erwarten ließ, erhielt die gemeinsame Sozialpolitik einen höheren Stellenwert. So plädierte der Europäische Rat dafür, einen „europäischen Sozialraum" entstehen zu lassen.

Die Einheitliche Europäische Akte (EEA), in Kraft seit 1. Juli 1987, hat das Ziel eines europäischen Sozialraums dann festgeschrieben. Die teilweise großen sozialen Unterschiede zwischen den einzelnen EG-Ländern sollen in diesem Raum nicht mehr bestehen. So soll es z.B. im Arbeitsschutz Mindestanforderungen geben, die für alle EG-Länder gleich sind, ohne die höheren Schutzvorschriften oder sozialen Rechte einzelner EG-Staaten zu beseitigen. Im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung sind für europäische, nicht rein nationale Unternehmen neue Modelle der Mitbestimmung vorgesehen.

Sozialer Dialog:

Mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) wurde 1987 auch der Begriff des „Sozialen Dialogs" eingeführt. Hier geht es um die Mitwirkung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Verbänden und Gewerkschaften bei der Gestaltung der europäischen Politik. Hierfür stehen im arbeits- und sozialpolitischen Bereich auf EU-Ebene das Europäische Parlament, der Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Beratende Ausschuss der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Ständige Ausschuss für Beschäftigungsfragen bereit. Die Europäische Kommission muss die Sozialpartner sogar vor der Verabschiedung eigener Vorschläge konsultieren. 

Europäische Sozialcharta

Im Dezember 1989 verabschiedete der Europäische Rat in Form einer feierlichen Erklärung eine „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer". Rechtlich bindende Wirkung kommt ihr zwar nicht zu; dennoch gilt diese Sozialcharta als ein wichtiges Instrument für einen gemeinsamen Sozialraum. Bis auf Großbritannien befürworteten alle EG-Mitgliedstaaten die Notwendigkeit der Sozialcharta. Sie enthält Bestimmungen über soziale Grundrechte: Recht auf Freizügigkeit, Beschäftigung und gerechte Entlohnung, Recht auf sozialen Schutz, Recht auf Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen, Recht auf Berufsausbildung und Fortbildung, Recht auf Gleichbehandlung von Mann und Frau, Recht der Arbeitnehmer auf Information, Konsultation und Mitwirkung in den Betrieben, Recht auf Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz, Kinder- und Jugendschutz, Recht auf Mindestversorgung für ältere Menschen und Integration behinderter Arbeitnehmer.

Das Streikverbot für Beamte in der Bundesrepublik Deutschland bleibt unberührt. Auch sind in einigen Ländern für Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche erlaubt.

Ebenfalls im Dezember 1989 legte die Europäische Kommission ein Aktionsprogramm für soziale Mindeststandards vor, das 47 konkrete sozialpolitische Maßnahmen vorsah, um die Sozialcharta umzusetzen und dem europäischen Sozialraum im Gemeinsamen Binnenmarkt Konturen zu geben. Dieses Aktionsprogramm ist heute weitestgehend in der Form von Verordnungen, Richtlinien oder Empfehlungen verabschiedet worden. Es wurden u.a. Richtlinien über Massenentlassungen, über den Mutterschutz, den Jugendschutz und die Arbeitszeit verabschiedet.

Während der Verhandlungen über den im Februar 1992 unterzeichneten Maastrichter Vertrag erwies sich ausgerechnet die Sozialpolitik angesichts der britische Weigerung, einer Ausdehnung der sozialpolitischen Zuständigkeiten der EG zuzustimmen, als ernsthafter Stolperstein für eine Einigung. Ein Kompromiss sah schließlich vor, die sozialpolitischen Bestimmungen des EG-Vertrags unberührt zu lassen, dem Maastrichter Vertragswerk aber ein „Protokoll über die Sozialpolitik" hinzuzufügen. Darin wurden die übrigen Mitgliedstaaten ermächtigt, Organe, Verfahren und Mechanismen der EG für eine weiterreichende gemeinsame Sozialpolitik auch ohne Großbritannien zu nutzen.

Erst mit dem Amsterdamer Vertrag, in Kraft seit 1. Mai 1999, wurde das Sozialprotokoll in die Artikel 136 bis 148 des EG-Vertrages integriert und ein gemeinschaftliches Handeln der EU in der Sozialpolitik möglich. Artikel 136 nimmt ausdrücklich Bezug auf die in der Turiner Sozialcharta von 1961 sowie in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte von 1989 festgeschriebenen sozialen Grundpositionen.

2000 schließlich verabschiedete der Europäische Rat in Nizza ein sozialpolitisches Arbeitsprogramm für den Zeitraum 2000 bis 2005. Mit dieser „Europäischen Sozialagenda" wollte man die Lissabon-Strategie um eine sozialpolitische Dimension ergänzen. Es wurden Ziele einer gemeinsamen Sozialpolitik formuliert.

 

Ausblick

Es ist einiges geschehen in der europäischen Sozialpolitik der zurückliegenden Jahrzehnte. Vieles konnte thematisiert, die Bedeutung grundlegender sozialer Fragen aus dem anfänglichen Schattendasein herausgeführt werden. Auch wenn der Weg zu einer „Sozialunion" noch weit ist – die Diskussion über den Stellenwert und die Zukunft der europäischen Sozialpolitik ist in vollem Gang. Verschiedene Aktivitäten der Europäischen Kommission lassen erkennen, dass sie auch bisher rein national geregelte Fragen – etwa im Bereich der Sozialversicherungssysteme – auf EU-Ebene zu thematisieren, gewillt ist.


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