Liebe Leser
US-Präsident Obama hat nach meiner Wahrnehmung (und dies nicht erst seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise) weder ein moralisches Empfinden noch die nötige Ratio, die Dimension seines Handelns zu erkennen, Russland fortlaufend gering zu schätzen. Wer sein Spiel mitmacht, wer auf Gedeih und Verderb Obama-hörig ist, verkennt, dass es ohne Zustimmung der früheren Sowjetunion keine deutsche Einheit und keine europäische Einigung gegeben hätte. Wer heute in rechthaberischer Manier dem russischen Volk und seinem Präsidenten belehrend oder drohend entgegentritt, festigt nicht den so dringend notwendigen Zusammenhalt der Völker, sondern treibt die Welt in eine neue Form von Krieg und Gewalt. Dass Obama und sein Anhang Russland aus dem G8-Club rausgeschmissen haben, dürfte Putin am wenigsten stören. Und auch alle anderen politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, die die USA und der Westen gegen Russland aus Gründen der Ukraine-Krise bereits erlassen haben oder noch erlassen werden, treffen Russland zu keinem Zeitpunkt ins Mark.
Erwin Sellering (SPD) machte es richtig. Angela Merkel (CDU) machte es falsch. Der eine fuhr zu Putin hin, redete über eine deutsch-russische Wirtschaftskonferenz, die im Herbst in Mecklenburg-Vorpommern stattfindet. Die andere sagte die im April geplanten deutsch-russischen Regierungskonsultationen mit Putin am Rande des diesjährigen Petersburger Dialogs in Leipzig ab. Doch merkwürdig ist: Die deutsche Bundeskanzlerin ruft den russischen Präsidenten nun schon fast wöchentlich ein-, zweimal an, redet mit ihm; aber sehen will sie ihn nicht. So wie Merkel zu Obama düst, wäre sie auch schnell mal in Moskau. Jetzt finde ich es wenigstens ermutigend, dass am 6. Juni, wenn die ehemaligen Alliierten den 70. Jahrestag der Truppenlandung in der Normandie feiern, Obama, Putin und Merkel aufeinander treffen werden.
Ich selbst lernte in der DDR in einer Schulklasse mit erweitertem Russischunterricht. Da gehörten Brieffreundschaften mit Gleichaltrigen in der Sowjetunion, Begegnungen mit sowjetischen Soldaten der GSSD und ihren Angehörigen sowie mit Komsomolzen auf Freundschaftstreffen in Pionierorganisation und FDJ von jung auf zu meinem Leben dazu. Ich kenne große Teile der ehemaligen Sowjetunion persönlich, war als Kind mit meinen Eltern mit dem Auto auf der Krim und in Sotschi. Später über „Jugendtourist" in Moskau, Sibirien, Usbekistan bis an den Baikalsee. Mich berührte das Tschernobyl-Unglück 1986 in der Seele. Heute berühren mich die Kämpfe in Kiew, Charkow und auf der Krim in der Seele. Ich war dort überall schon mindestens einmal. Wenn in Donezk geschossen wird, in der früheren Partnerstadt von Magdeburg, weiß ich, wie die Lage dort sein muss. Kiew gilt als Mutter aller russischen Städte. Keine amerikanischen Politiker, Obama schon gar nicht, und auch viele aus dem Westen nicht, bringen auch nur annähernd einen Hauch von Sensibilität auf, russische und sowjetische Geschichte und ihre Menschen im Vielvölkerstaat zu verstehen.
Ich war 1991 dabei, als in meiner Heimatstadt Stendal, die russischen Truppen abzogen. Auf der Abschiedsfeier sagte mir ein Offizier: „Politik wird ganz oben gemacht, und hier unten wird das Leben verwirklicht." Ein sehr richtiges Wort, an das ich mich gerade jetzt in der scharfen Ost-West-Krise immer wieder erinnere und mich frage: Wie lange wird da noch mit dem Feuer gespielt? Dass der erste schwarze Präsident der USA der ganzen Welt seinen Willen aufzwingen will, daran habe ich keine Zweifel. Dass der gleiche Mann, der jüngste US-Chef aller Zeiten, der auch schon Träger des Friedensnobelpreises ist, mit seiner militärischen Größe zündeln könnte, macht mir Angst. Die Ukraine-Krise darf für keine Seite ein Grund sein, die ganze Welt preiszugeben!
Ein herzliches Glück auf!
André Wannewitz
(Editorial Mai/Juni 2014)