"In der DDR steckte die Aufbauleistung von Generationen"
mdw: Herr Krenz, Sie waren 1989 als Nachfolger Erich Honeckers kurzzeitig der SED-Partei- und DDR-Staatschef und auch Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates. Dürfen Sie Ihre Titel im wiedervereinten Deutschland weiterführen?
Krenz: Mir reicht’s, wenn man meinen Namen nennt. Es ärgert mich aber, wenn Lebensleistungen von DDR-Bürgern, die ja auch in Berufs- und anderen Titeln sichtbar werden, gering geschätzt werden.
mdw: Meine Frage war: Dürften Sie Ihre Titel führen, so wie beispielsweise Helmut Kohl als Kanzler a.D.?
Krenz: Verboten ist es nicht, aber ich werde dies auch nicht provozieren. Es gibt ja Politiker, die erwägen, das Staatswappen der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz gesetzlich zu verbieten. Sie nutzen den kleinsten Vorwand, um von den wirklich wichtigen Fragen abzulenken. Zum Beispiel davon, dass es in einem Vierteljahrhundert nicht gelungen ist, gleiche Lebensbedingungen in Ost und West zu schaffen. Denen werde ich keine billigen Vorlagen liefern.
mdw: Diese Leute argumentieren aber, das Hakenkreuz sei auch verboten.
Krenz: Mit solchen Vergleichen stellen sie nicht nur die DDR ins falsche Licht. Sie verharmlosen auch den Faschismus. Insofern wundert es mich schon, dass die Justiz nicht prüft, ob es sich um Volksverhetzung handelt. Jedes Gleichheitszeichen zwischen dem Nazireich und der DDR verbietet sich angesichts von Auschwitz von selbst, angesichts des Blutzolls, den unter allen Parteien Kommunisten und Sozialdemokraten am höchsten entrichtet haben, angesichts von mehr als 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges.
mdw: Worin sehen Sie die Ursache für so unpassende geschichtliche Vergleiche?
Krenz: Trotz der bemerkenswerten Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum „Tag der Befreiung" 1985 sind viele aus der politischen und geistigen Elite noch immer nicht mit sich über den Charakter des 8. Mai 1945 im reinen. Wer diesen Tag lediglich als Kriegsende, als Kapitulation oder Zusammenbruch sieht, wird kaum die richtigen Lehren aus der deutschen Geschichte ziehen können. Damit im Zusammenhang steht, dass Naziverbrechen in der alten BRD nie konsequent aufgearbeitet wurden. Man übernahm einen Großteil der Nazieliten nahtlos in das Führungspersonal der Alt-Bundesrepublik, wo sie sehr lange tätig waren und nicht wenige – wie zum Beispiel Filbinger – zu hohen Ehren kamen. Man bezeichnet den Faschismus ja bis heute irreführend als Nationalsozialismus. Dabei sollte inzwischen jeder gebildete Mensch wissen, dass der weder national noch sozialistisch, sondern einmalig verbrecherisch und kapitalistisch war.
mdw: Sie waren vier Jahre inhaftiert. Dürfen Sie sich politisch betätigen?
Krenz: Ja, aber: Im Bundeszentralregister gibt es dazu eine Eintragung, von der ich nicht weiß, wie lange sie gilt: „Verlust der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit" und „Verbot der Beschäftigung, Beaufsichtigung, Anweisung und Ausbildung Jugendlicher". Weniger schwülstig: Von Beruf bin ich Lehrer. Die Eintragung kommt einem Berufsverbot gleich.
mdw: 2014 ist ein Jahr mit Ereignissen von epochaler Bedeutung. Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Vor 75 Jahren wurde der Zweite Weltkrieg entfacht. Vor 65 Jahren gründete sich die Deutsche Demokratische Republik. Und 2014 ist auch das 25. Jahr seit 1989...
Krenz: Bei Ihrer Aufzählung fehlt die Verkündung des Grundgesetzes der Alt-Bundesrepublik am 23. Mai 1949. Der entscheidende Schritt dorthin war die Währungsreform im Juni 1948, die erste Ausgrenzung der Ostdeutschen. Man schloss sie aus der bis dahin gesamtnationalen Währung aus. Die DDR entstand erst am 7. Oktober 1949, also mehr als vier Monate nach der Bundesrepublik. Ihr Parlament, die Volkskammer, und ihre Regierung nannten sich im Hinblick auf die Zukunft„ provisorisch". Allein daran und am zeitlichen Ablauf lässt sich erkennen, dass die Wiege der deutschen Spaltung im Westen stand. Im Übrigen bin ich neugierig, wie die von Ihnen genannten Gedenktage durch Politik und Medien gewichtet werden.
mdw: Was meinen Sie damit?
Krenz: Ausgerechnet zu Beginn des Gedenkjahres an den Ersten und Zweiten Weltkrieg tönt es von oberster Stelle, Deutschland dürfe nicht seine „historische Schuld benutzen, um dahinter Bequemlichkeit und Weltabgewandtheit zu verstecken". Dies ist verbunden mit der Forderung nach einem Ende der Zurückhaltung in der deutschen Außenpolitik und für eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt. Ausdrücklich wird darin das militärische Engagement eingeschlossen. Begleitet wird das alles mit einer Herabwürdigung Russlands. Und das 100 Jahre nach Kaisers Kriegsgeschrei. Das macht mir Angst. Wie hieß doch die Losung des heutigen Bundespräsidenten zu DDR-Zeiten: „Frieden schaffen ohne Waffen". Das wäre doch in einer Zeit ohne Systemkonfrontation ein gutes Konzept für die Bundesrepublik Deutschland!
mdw: Kommen wir zu den weiteren Gedenktagen des Jahres.
Krenz: Zuweilen habe ich den Eindruck, die alte Bundesrepublik hat keine eigenen Gedenktage. Sie gedenkt in einem fort der DDR, dem 17. Juni 1953, dem 13. August 1961, dem 9. November 1989… Diese Ereignisse werden in den Rang von „Schlüsseldaten europäischer Geschichte" erhoben. Tatsächliche Schlüsseldaten werden „vergessen" oder kleingeredet. Die DDR-Geschichte wird wie ein Kriminalfall abgehandelt, als eine Kette von Verbrechen. Kürzlich forderte der Bundespräsident mehr „intellektuelle Redlichkeit" und mehr „historisches Bewusstsein" im Umgang mit wirtschaftsliberaler Theorie und Praxis. Ich wünschte mir, dass er diese Maßstäbe an sich selbst vor allem beim Umgang mit der Geschichte der DDR anlegen würde. Sein „aufgeklärter Antikommunismus" ist dafür ungeeignet.
mdw: Was führt Sie zu dieser Schlussfolgerung?
Krenz: Ich stelle mir zum Beispiel die Frage: Wer eigentlich ist für die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts verantwortlich? Nicht die DDR, auch nicht die Kommunisten. Die beiden Weltkriege waren imperialistische. Sie gediehen wie auch der Holocaust auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die Gedenktage 2014 böten die Chance, darüber sachlich zu diskutieren und auch Lernprozesse von aktuellem Nutzen anzustoßen.
mdw: Was steht dem denn im Wege?
Krenz: Ein staatlich verordnetes Geschichtsbild. Ich kenne kein Gemeinwesen auf der Welt, in dem alles gerecht, aufrichtig und moralisch sauber zugeht. Insofern beteilige ich mich auch an kritischen Debatten über die DDR. Aber sachlich und wahrheitsgemäß müssen sie sein. Ich will die DDR nicht schöner reden als sie war. Schon deshalb nicht, damit künftige Generationen nicht die gleichen Fehler machen wie wir. Es ist für mich aber unakzeptabel, die DDR in Bausch und Bogen zu verurteilen und ihre historische Legitimität in Frage zu stellen.
mdw: Aber wieso „staatlich verordnetes" Geschichtsbild?
Krenz: Churchill soll einst gesagt haben: Wer ein Geschichtsbild wünscht, das ihm sympathisch ist, muss es selbst schreiben. Genau das tat die Mehrheit des Deutschen Bundestages. Nachzulesen ist dies in dem 1997 veröffentlichten Bericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit". Der hat mit Anlagen 15 000 Blätter. Politik und Medien arbeiten ihn jetzt Punkt für Punkt ab. Ich habe mir die Mühe gemacht, das Pamphlet vollständig zu lesen. Es macht die DDR für alle Boshaftigkeiten der deutschen Spaltung verantwortlich, während die alte Bundesrepublik für das Gute und Schöne auf deutschem Boden steht. So ist die Geschichte nicht verlaufen. Ich lasse mich nicht auf die Formel ein: Im Osten herrschten die diktatorischen Verbrecher und im Westen lupenreine Demokraten.
mdw: Was bedeutet das praktisch?
Krenz: Gerechterweise müsste auch das tatsächliche Geschichtsbuch der alten Bundesrepublik geöffnet werden. Würden die Akten aller Bundesregierungen und ihrer Geheimdienste so zugänglich sein, wie es heute die Akten der DDR sind, viele Bundesbürger würden sich wundern, was da alles gelaufen ist. Sofern der Glaube vorhanden war, dass dort alles besser, sauberer, moralischer und demokratischer als in der DDR gewesen wäre, bräche er wie ein Kartenhaus zusammen. Was weiß zum Beispiel ein Durchschnittsmensch von den schwarzen Punkten bundesdeutscher Geschichte? Am 28. Oktober 1948 zum Beispiel kam es in Süddeutschland nach Streiks und Protesten für Preisregulierung, Lohnerhöhung und Mitbestimmung mit 9 Millionen Teilnehmern zu schweren Unruhen, bei denen die US-Militärpolizei Tränengas und Panzer eingesetzt hatte. US-General Clay hatte ein Ausgehverbot für die Bewohner von Stuttgart verhängt. Berichtet wird aber nur über den 17. Juni 1953 in der DDR.
mdw: Kürzlich meldeten Medien, in DDR-Gefängnissen habe es Zwangsarbeit gegeben. Stimmt das?
Krenz: In DDR-Gefängnissen gab es Arbeitspflicht. Als ich 1997 in Haft kam, habe ich mir den folgenden Text aus dem Haftvollzugsgesetz der Bundesrepublik Deutschland notiert: „(1) Jeder arbeitsfähige Strafgefangene ist verpflichtet, Arbeit zu leisten. (2) Zur Arbeit verpflichtete Strafgefangene haben die Arbeiten zu verrichten, die ihnen zugewiesen werden." Wenn das Zwangsarbeit ist, dann gibt es sie in der Bundesrepublik bis heute. In der DDR-Rechtsordnung gab es diesen Begriff nicht. Er steht aber in Artikel 12, Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „ Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig." Zudem: Die Straftaten mit politischem Hintergrund an der Zahl der Gesamtzahl der Verurteilten betrug in der DDR 4 Prozent.
mdw: Vor einem Vierteljahrhundert begannen in der DDR und in anderen Staaten des Warschauer Vertrages und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe immense politische Umbrüche, die 1990 die deutsche Einheit und gleichzeitig die weltumspannende Auflösung des Sozialismus brachten.
Krenz: Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mit dem Zeitmaß Vierteljahrhundert recht haben. Was 1989/90 ausbrach, hatte sich lange angebahnt. In der Auseinandersetzung zwischen der UdSSR und den USA erlitten die sozialistischen Staaten Europas eine vernichtende, vor allem durch das Wettrüsten forcierte, Niederlage. Der Kalte Krieg wurde international und mit einer politischen Einigkeit geführt, die es eben nur bei der Bekämpfung einer Systemalternative gibt. Die deutsche Einheit ist dabei eher ein Nebenprodukt der globalen Auseinandersetzung. Für die USA war das Wichtigste, dass ihr Hauptkonkurrent Sowjetunion als Großmacht zerschlagen wurde.
mdw: Unterschätzen Sie da den (west)deutschen Beitrag zur Einheit nicht?
Krenz: Keineswegs. Ich bin kein Einheitsgegner, aber ein Kritiker der Art und Weise, wie sie zum Nachteil von DDR-Bürgern zustande gekommen ist. Als ich am 1. November 1989 in Moskau vier Stunden mit Gorbatschow diskutierte, fragte ich ihn auch: Steht die Sowjetunion gegenüber der DDR zu ihrer Vaterschaft? Die DDR sei auch ein Ergebnis des 2. Weltkrieges und des daran anschließenden Kalten Krieges, also durchaus ein Kind auch der Sowjetunion. Mir sei wichtig zu wissen, ob die UdSSR bereit sei, ihre Bündnisverpflichtungen zu erfüllen?
mdw: Was hat Gorbatschow geantwortet?
Krenz: Er erklärte kategorisch: Die Einheit Deutschlands stehe nicht auf der Tagesordnung! Bundeskanzler Kohl, so Gorbatschow, reite zwar das Pferd des Nationalismus. Solange aber die NATO und der Warschauer Vertrag existieren würden, sei für die UdSSR die deutsche Einheit nicht akzeptabel. Wie gesagt, das war am 1. November 1989! Schon Ende November traf sich Gorbatschow dann mit US-Präsident Bush vor und auf Malta. Dort knickte er ein. Ohne Not erklärte er den Kalten Krieg einseitig für beendet, was einer Kapitulation gleich kam.
Nun stand auch die DDR zur Disposition. Für die politische Elite der Bundesrepublik kam das überraschend. Trotz anderslautender Rhetorik war sie darauf gar nicht vorbereitet. Oder meinen Sie, Helmut Kohl hätte noch 1987 Honecker als Staatsoberhaupt in Bonn empfangen, wenn er an die schnelle Einheit geglaubt hätte? Alle im Bundestag vertretenen Parteien hatten sich schon lange mit der Zweistaatlichkeit abgefunden. Das Bild änderte sich erst, als Gorbatschow hinter dem Rücken der DDR seine Emissäre ins Bundeskanzleramt geschickt hatte, um zu erkunden, was Bonn die Einheit wert ist.
mdw: Was zweifellos den Interessen der Deutschen entsprach?
Krenz: Das sehe ich differenzierter. Die Bewegung „Wir sind das Volk" war zunächst ein Aufbegehren gegen die Erstarrung im eigenen Land. „Wir sind ein Volk" kam erst später, auch mit starker bundesdeutscher Unterstützung. Mitunter ist es ganz gut, sich an Originaltexte aus damaliger Zeit zu erinnern. Am 11. September 1989 forderte das Neue Forum „keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft". In dem Aufruf der Leipziger Persönlichkeiten um Kurt Masur vom 9. Oktober 1989 heißt es u.a.: „Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land". Die neu gegründete Bürgerbewegung „Demokratie jetzt", zu der auch die heutige Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gehörte, meinte: Der Sozialismus „darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht". Der „Demokratische Aufbruch", deren Pressesprecherin Angela Merkel war, betonte in einem Grundsatzdokument: „Die kritische Haltung des Demokratischen Aufbruchs (DA) zum real-existierenden Sozialismus bedeutet keine Absage an die Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung: Wir beteiligen uns am Streit um die Konzeption des Sozialismus". Bärbel Bohley antwortete in der französischen Zeitung FIGARO auf eine Frage zur deutschen Einheit: „Das ist ein Thema für Wahlkampagnen in Westdeutschland. Die westdeutsche Lebensweise ist uns ganz und gar fremd… Was die BRD will, ist eine Vereinigung, bei der sie ihr Modell durchsetzt. Die Ostdeutschen wollen sich aber nicht 40 Jahre ihrer Geschichte entledigen."
Bei der Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alex gab es keinen Redner, der die deutsche Einheit gefordert hätte. Auch die Pfarrer Eppelmann und Schorlemmer schrieben mir in einem Brief: „Uns geht es um Demokratie und Sozialismus in unserem Land." Inzwischen meint Herr Eppelmann zwar, ich hätte das Wort „Wende" gebraucht, aber etwas ganz anderes als die Einheit gemeint. Wo er recht hat, hat er recht. Ich setzte auf eine Erneuerung der DDR als souveränen sozialistischen Staat. Damals erweckte er den Eindruck, dass auch er dies wolle.
mdw: In der Gesamtschau dieser jüngeren Weltgeschichte betrachtet, waren der Sozialismus und in ihm die DDR eine Gesellschaftsformation auf Zeit? Ist der reale Sozialismus damit für alle Zeit tot? Oder hat die Idee des Sozialismus noch eine Chance?
Krenz: Gestorben ist ein bestimmtes Modell des Sozialismus. Nicht die sozialistische Idee. Sie ist beschädigt, aber nicht tot. Die Geschichte ist kein gradliniger Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt. Es gibt auch Epochen des Rückschritts und der Stagnation. Die Entwicklung der Produktivkräfte mit allen ihren Auswirkungen geht trotzdem voran. Sie und die globalen Belastungen der Erde werden Änderungen erzwingen. Damit werden früher oder später neue und sicher aussichtsreichere Versuche zustande kommen, die Gesellschaft grundlegend zu ändern. Deshalb sollte man die vielen positiven wie negativen Erfahrungen der vergangenen Epoche nicht geringschätzen. Sie können für die Zukunft von bleibendem Wert sein, weil sie lehren können, was sich bei der Neugestaltung der Gesellschaft bereits bewährt hat und was nicht.
mdw: Vor einigen Monaten präsentierten Sie in Berlin das Buch „Walter Ulbricht". Sie, Herr Krenz – nach Honecker der zweite Nachfolger Ulbrichts – haben Zeugnisse zu Leben und Werk Ihres Vorgängers gesammelt und mit dem Buch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Welche Botschaft wollen Sie damit vermitteln?
Krenz: 70 Zeitzeugen erinnern sich an Ulbricht als eine starke und auch widerspruchsvolle Persönlichkeit, die das 20. Jahrhundert durchlebt, durchlitten und selbst mitgestaltet hat. Insofern handelt es sich um ein authentisches Geschichtsbuch über einen wichtigen Abschnitt der Entwicklung nicht nur der DDR, sondern auch Deutschlands und Europas. Darüber hinaus geht es mir generell um deutsche Lebensläufe im vergangenen Jahrhundert. Der herrschende Zeitgeist bewertet Biografien nach politischen Interessen. Macht sich zum Richter über „richtiges" oder „falsches" Leben. Jubiläen werden benutzt, um genehme Personen zu glorifizieren und politisch Andersdenkende zu diffamieren. Die „Guten" kommen meist aus den Eliten der Bundesrepublik, die „Gescholtenen" fast immer aus der DDR. Zweierlei Maß für deutsche Biografien. Losgelöst von der Zeit, in der Menschen lebten und handelten. Dagegen wehre ich mich.
mdw: Mit Blick auf die 89er Ereignisse in der DDR prägten Sie bei Ihrer Buchvorstellung in Berlin den Satz: „Selbst ein Mann vom Format Ulbrichts wäre der Lage 1989 nicht mehr Herr geworden." Als Nachfolger Honeckers sollten Sie ab dem 18. Oktober 1989 jedoch Herr der Lage werden. Warum war das so schwierig? Warum scheiterte letztlich die SED?
Krenz: Das Ende der DDR hat nicht nur mit dem Versagen von Personen zu tun. Vielmehr gab es ein ganzes Ensemble von objektiven und subjektiven, von internationalen und nationalen, von politischen und ökonomischen, von historischen und aktuellen Ursachen. Für meine Generation im Politbüro beispielsweise war die von den Bürgern so ersehnte Gewährung der Reisefreiheit schon keine primär sicherheitspolitische Frage mehr, sondern eine ökonomische. Wie überhaupt viele – wahrlich nicht alle – Beschränkungen von persönlichen Freiheiten auf ökonomischen Zwängen basierten. In diese Abhängigkeit waren wir nicht zuletzt infolge eines nicht verkraftbaren ökonomischen Krieges gegen uns geraten. Dessen Urheber fürchteten nichts mehr, als dass sich die emanzipatorischen Ideen des Sozialismus´ entfaltet hätten. In der DDR verlor ein Sozialismusversuch, der denkbar schlechte historische Voraussetzungen hatte. Er wurde in seiner wechselvollen Geschichte oft geschwächt und durch ungleiche Kriegslasten und ökonomische Blockaden zum Ausbluten freigegeben.
mdw: Im Oktober 1989 machte der so genannte Schürer-Bericht von sich reden. Der frühere Vorsitzende der DDR-Plankommission verfasste die Politbürovorlage „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen", die Sie zuvor in Auftrag gegeben hatten. In der Vorlage wird aus der hohen Staatsverschuldung gegenüber den westlichen Ländern die unmittelbar bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der DDR gefolgert. Später wurden diese Veröffentlichungen wesentlich relativiert. Wie stand es um die ökonomischen Belange der DDR in Ihrer Amtszeit tatsächlich?
Krenz: Nach abschließenden Untersuchungen der Deutschen Bundesbank hatte die DDR 1989 Auslandsschulden in Höhe von 19,9 Milliarden Valutamark (VM). Umgerechnet sind das nicht einmal 10 Milliarden Euro. Eine Verschuldung gegenüber der BRD bestand nicht. Der Kredit, den Franz-Josef Strauß vermittelt hatte, war ein politisches Signal für die internationale Kreditwürdigkeit der DDR. Er lag noch 1990 auf der Bank und wurde nicht in Anspruch genommen. Den Schulden im Nichtsozialistischen Wirtschaftssystem (NSW) in Höhe von 19,9 Milliarden VM standen Guthaben im sozialistischen Wirtschaftsgebiet von 23,3 Milliarden VM gegenüber.
mdw: Wo ist dieses Geld geblieben?
Krenz: Es kam schon der BRD zugute. Sie erließ mit dem DDR-Guthaben großzügig früheren RGW-Staaten ihre Schulden. So wurde deren EU-Beitritt gesponsert. Fakt ist: Die DDR war nicht pleite. Sie war im Verschuldungsgrad von einer Pleite wesentlich weiter entfernt, als es viele der führenden kapitalistischen Staaten waren. Ganz zu schweigen von den heutigen Problemstaaten (Griechenland, Irland, Spanien usw.). Ein Staat ist pleite, wenn sein Schuldenstand eine solche Höhe erreicht hat, dass er im Inland seinen Zahlungsverpflichtungen in Form von Löhnen, Renten, Sozialleistungen nicht mehr nachkommen kann oder im Ausland seine Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllt. Nichts davon traf auf die DDR zu.
mdw: Wie erklären Sie sich dann die anderslautenden Aussagen von Schürer?
Krenz: Die Analyse war für Ökonomen der DDR geschrieben, die daraus Schlussfolgerungen für eine dringend notwendige sozialistische Wirtschaftsreform hätten ziehen sollen. Sie beschränkte sich keineswegs – wie das heute interpretiert wird – einseitig auf die Verschuldung. Sie enthielt vielmehr wichtige Aussagen zu Akkumulation und Konsumtion, Leistung und Lohn, zur notwendigen technischen Erneuerung von Grundfonds und zur ausgewogenen Bilanz von Erfolgen und Missständen der gesamten Volkswirtschaft.
mdw: Wozu wurde die Analyse denn überhaupt gemacht?
Krenz: Schürer und seine Genossen spitzten zu, um die Wirtschaftsreform schnell auf den Weg zu bringen. Wohl deshalb wurde die Lage von den Autoren des Papiers dramatisiert. Auf jeden Fall hatte Schürer das Papier nicht für einen späteren CDU-Parteitag ausgearbeitet, der es als Propagandaschrift gegen die DDR missbraucht hat. Klar, wir hatten ökonomische Probleme. Das weiß jeder, der die DDR kennt. Wir hatten in den letzten Jahren zu wenig in die Produktion investiert, haben beim Umweltschutz und auch beim innerstädtischen Bauen gesündigt. Das berechtigt aber nicht zu der unwahren Behauptung, die DDR habe nur Marodes hinterlassen.
Zudem: Sechzig Prozent unserer Anlagenimporte kamen aus dem Westen. Die „Brüder und Schwestern" werden uns doch wohl nicht etwa Schrott geliefert haben?
mdw: Wie kommt es denn, dass das Schürer-Papier heute so missdeutet wird?
Krenz: Die Behauptung, die SED habe die Wirtschaft ruiniert, hat ideologische Funktionen. Sie wird gebraucht, um die Deindustriealisierung Ostdeutschlands nach dem Ende der DDR zu rechtfertigen. Sie wird auch genutzt, um DDR-Bürgern zu sagen: Ihr habt ja nur Schulden in die Einheit eingebracht. Also „jammert nicht, wenn es euch schlechter als den Altbundesbürgern geht".
Zudem gibt es keinen realen Vergleich mit den westdeutschen Staatsschulden bis 1990. Dabei weist das Statistische Bundesamt für 1989 je Kopf der Altbundesbürger 8 100 Euro Schulden aus. Über die Inlandsschulden der DDR gibt es unterschiedliche Berechnungen. Sie schwanken nach meinen Unterlagen (umgerechnet in Euro pro Kopf der Bevölkerung) von ca.1 000 bis ca. 2 500 Euro.
Ich frage mich manchmal: Was wäre wohl aus dem kapitalistischen Westen geworden, wenn er die Reparationen für ganz Deutschland hätte zahlen müssen wie die DDR? Was wäre aus ihm geworden, wenn er statt der 100 intakten Hochöfen nur die vier zerstörten gehabt hätte, wie wir? Wenn er von großen Industriestandorten wie dem Ruhrgebiet getrennt worden wäre? Dann hätte sich wahrscheinlich auch die Bundesrepublik anders entwickelt. Solche historischen Zusammenhänge werden ausgeblendet. Wir haben nach dem Krieg keine blühenden Landschaften mit Marshallplanhilfe schaffen können. In der DDR von 1989 steckte die Aufbauleistung von Generationen. Ich wünschte mir, dass Politiker wie Medien diesen Leistungen respektvoller begegnen.
mdw: Ich selbst war vor 25 Jahren 26 Jahre alt. Als junger Mensch fragte ich mich oft, warum sich Honecker so hartnäckig gegen die Einführung von Perestroika und Glasnost auch hierzulande sperrt. Können Sie mir heute darauf eine Antwort geben?
Krenz: Mein einst sehr gutes Verhältnis zu Erich Honecker wurde beschädigt, weil auch ich anfangs Sympathie für Gorbatschows Politik zeigte. So wie es bis 1985 lief, konnte es auch in der UdSSR nicht weitergehen. Leider fehlte Gorbatschow wie auch uns das Konzept für eine wirkliche sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft. Deshalb liefen ihm und auch uns die Dinge aus dem Ruder.
Perestroika und Glasnost sind gescheitert, die UdSSR von oben zerschlagen worden, und ihre Verbündeten sind wieder in den Armen des Kapitalismus. Das ist die Bilanz von Gorbatschow. Offensichtlich hat Honecker mit seinen politischen Erfahrungen eine solche Entwicklung befürchtet und sich deshalb dagegen – wie Sie sagen – gesperrt.
Als Gorbatschow sich bei den ersten russischen Präsidentenwahlen bewarb, erhielt er 0,51 Prozent der Stimmen. Das war das Urteil des russischen Volkes über ihn.
mdw: Oder könnte auch der im Nachhinein entstandene Eindruck richtig sein, Gorbatschow wollte mit seiner Politik ab 1985 den Weg in die Freiheit weisen – und erledigte damit die DDR?
Krenz: Zwar behauptet Gorbatschow dies nachträglich. Er sagt sogar, er habe bewusst so gehandelt, um den Kommunismus zu zerstören. Da ich ihn gut kenne, nehme ich ihm diese Version nicht ab.
mdw: Im Gespräch mit dem früheren sowjetischen Deutschland-Experten Valentin Falin zum Ulbricht-Buch bringen Sie in Ihren Fragestellungen spürbare Kritik an der sowjetischen Politik gegenüber der DDR zum Ausdruck. Falin weicht Ihnen in seiner Antwort aus oder versucht, der DDR den Schwarzen Peter zuzuschieben. War die vielbeschworene deutsch-sowjetische Freundschaft zu DDR-Zeiten etwa zerrüttet?
Krenz: So sehe ich das nicht. Falin schaut aus sowjetischer Sicht auf beide deutsche Staaten. Da spielen Interessen der Großmacht eine Rolle. Auch die eines Siegers über den Faschismus. Das muss erlaubt sein.
Ich schaue auf die sowjetische Politik als jemand, der daran glaubte, dass der große Bruder auch die Interessen des kleinen vertritt. Ich hätte mir in meiner Jugend nie vorstellen können, dass eine sowjetische Führung hinter dem Rücken der DDR das Schicksal ihres vielleicht treuesten Verbündeten in die Hände der Bundesrepublik geben würde.
Das wirft natürlich die Frage auf, wie ehrlich ist Moskau mit der DDR umgegangen? Bevor ich mir selbst diese Frage beantwortete, las ich alles mir Zugängliche über die Beziehungen UdSSR/DDR in den Archiven und verglich dies mit meinen eigenen Erfahrungen.
mdw: Zu welchen Schlussfolgerungen sind Sie dabei gekommen?
Krenz: Eines der Resultate waren meine Fragen an Falin. Ich bin Realist und deshalb keineswegs enttäuscht: Die Souveränität der DDR war in vielen Fragen gegeben, nicht aber in der Militär- und Sicherheitspolitik, auch nicht auf dem Gebiet der Gestaltung der Beziehungen beider deutscher Staaten zueinander. Da blieben die Regeln in Kraft, die sich aus der Nachkriegsverantwortung der UdSSR für Deutschland als Ganzes ergaben. Dennoch: Die UdSSR und die DDR haben gemeinsam sehr viel getan, dass sich DDR-Deutsche und Russen aussöhnten. Ohne die über 40-jährigen Bemühungen der deutsch-sowjetischen Freundschaft wäre wahrscheinlich heute das Mistrauen zwischen Deutschen und Russen wesentlich tiefer. Die Diskrepanz, die es mit bestimmten Leuten in der sowjetischen Führung gab, berührt nicht meine freundschaftliche Verbundenheit mit den russischen Menschen.
mdw: Fühlen Sie sich von Moskau verraten?
Krenz: Ich bin kein Anhänger von Verschwörungstheorien. Wer aber verraten wird, muss sich immer auch fragen lassen, warum er sich verraten ließ.
1989/90 war schon sehr viel Unehrlichkeit und Heuchelei dabei. Nicht wenige im heutigen Moskau nennen Gorbatschow den „besten Deutschen". Das sagt einiges aus über ihn.
Es gibt verschiedene Formen von Verrat. Eine aus Berechnung und eine andere aus Schwäche und Eitelkeit. Für die erste steht man auf der Gehaltsliste eines Geheimdienstes. Das schließe ich bei Gorbatschow aus. Für die zweite erhält man von seinen früheren politischen Gegnern außergewöhnlich viel Beifall, nicht aber von der eigenen Bevölkerung. Das trifft auf Gorbatschow zu.
mdw: Wie ist Ihr Verhältnis heute zur früheren Sowjetunion?
Krenz: Ich habe noch viele Freunde dort. Nicht unter den Oligarchien. Wohl aber unter früheren Weggefährten. Bestimmend bleibt für mich, dass die Sowjetunion für die Befreiung Europas vom Faschismus den größten Blutzoll gezahlt hat: 27 Millionen Tote. Ein Deutscher – ob Staatsoberhaupt oder einfach nur Bürger – sollte das nie vergessen. Die gleiche Sensibilität, die hierzulande gegenüber den Beziehungen zu Israel an den Tag gelegt wird, verdient angesichts der deutschen Schuld und der millionenfachen Opfer auch Russland. Sicher war es für deutsche Politiker bequemer, mit einem altersschwachen Präsidenten wie Jelzin statt mit Putin zu verhandeln.
mdw: Warum?
Krenz: Weil Putin im Unterschied zu Gorbatschow und Jelzin russische Interessen vertritt und nicht tatenlos zusieht, wie die NATO sein Land umkreist. Es ist doch leider eine unbestreitbare Tatsache, dass nach dem Ende der Sowjetunion selbst in Europa wieder Kriege möglich wurden. Als jemand, der fast vier Jahre in Moskau gelebt hat, empfinde ich die hiesige Berichterstattung über Russland für dort Lebende geradezu beleidigend. Deutsche Politiker müssen respektieren, dass Putin von einer Mehrheit der Russen gewählt wurde, ob ihnen das passt oder nicht. Mir wäre ein Mann wie der Chef der Kommunistischen Partei, Gennadi Andrejewitsch Sjuganow, als Präsident in Russland auch lieber. Aber wer Präsident in Russland ist, wird dort und nicht in Deutschland entschieden.
mdw: 25 Jahre nach dem Mauerfall werden in Deutschland sicher in diesem Jahr landauf, landab die unterschiedlichsten Veranstaltungen stattfinden, die dieses Ereignis thematisieren.
Krenz: Was heute unredlich als „Sturm auf die Mauer" bezeichnet wird, war in Wirklichkeit die Wahrnehmung einer auf einer Pressekonferenz ausgesprochenen Einladung durch ein SED-Politbüromitglied, „ab sofort" die Grenze passieren zu können. Nachdem Günter Schabowski aus Schussligkeit die durch die DDR-Führung beschlossene Grenzöffnung vom 10. November auf den Abend des 9. November vorverlegt hatte, strömten viele Berliner zu den Grenzübergängen. Da die Grenzsoldaten zur Öffnung noch keine Befehle hatten, entstand zunächst eine chaotische Situation, die leicht hätte in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen umschlagen können.
Ich stand unter enormen Stress. Bei mir liefen die wichtigsten Entscheidungen dieser Nacht zusammen. Zum Beispiel: Lassen wir den Dingen freien Lauf, oder setzen wir die bewaffnete Macht ein? Ich konnte mich dabei auf meinen Befehl 11/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 3. November 1989 stützen, in dem es wörtlich heißt: „Die Anwendung der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten."
Am Morgen war ich nicht der glücklichste Deutsche, weil die Grenze geöffnet wurde, sondern weil die Nationale Volksarmee, ihre Grenztruppen, die Volkspolizisten und die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit diese Ausnahmesituation gemeistert hatten, ohne dass es ein besonderes Vorkommnis gab. Glücklicherweise war Sekt und nicht Blut geflossen.
mdw: Wie hat man in Moskau, in Washington und in Bonn darauf reagiert?
Krenz: Zunächst gar nicht. Wie mir der amerikanische Botschafter später sagte, habe US-Präsident George Bush die Nachricht über die Öffnung in Berlin zuerst nicht glauben wollen. Bundeskanzler Kohl erhielt die Information am Abend bei einem Empfang in Warschau, und Gorbatschow war nachts in Moskau nicht mehr erreichbar. Am Morgen des 10. November gab es daher auch einige internationale Verwirrungen. Die sowjetische Seite machte uns den Vorwurf, wir seien wegen des Vier-Mächtestatus von Berlin nicht berechtigt gewesen, die Grenze zu Westberlin zu öffnen. Auch die Militärverbindungsmissionen der drei Westmächte waren irritiert. Deshalb wandte sich auf meine Bitte hin der Chef des Stabes der Westgruppe der Streitkräfte der UdSSR, Generalleutnant Fursin, an das Oberkommando der USA-Landstreitkräfte in Europa sowie das Oberkommando der britischen und der französischen Streitkräfte in Deutschland mit der Bitte, „sich aus den Ereignissen herauszuhalten …" Wie sehr zu diesem Zeitpunkt noch militärische Aspekte eine Rolle spielten, geht auch daraus hervor, dass der Chef der US-amerikanischen Mission erklärte, „das USA-Oberkommando würde Einwände erheben, falls Armeeangehörige der NVA der DDR Berlin (West) besuchen sollten".
mdw: Und die Politiker?
Krenz: Nachdem Gorbatschow informiert worden war, wandte er sich noch am 10. November 1989 mit einer Botschaft an die führenden Repräsentanten der drei Westmächte und an Helmut Kohl. Darin warnte er, es könne „eine chaotische Situation mit unübersehbaren Folgen entstehen". Später präzisierte er, dass die DDR-Führung beigetragen habe, „militärische Aktionen mit weitreichenden Folgen zu verhindern". Auch Helmut Kohl war sich des Ernstes der Situation bewusst. Als wir am 11. November 1989 miteinander telefonierten, bedankte er sich für die „Öffnung der Grenzübergänge", nicht, wie es heute heißt, für „den Fall der Mauer". Letzteres erfolgte nämlich erst Monate danach. Während unseres Telefonats meinte der Kanzler noch, dass „jede Form der Radikalisierung gefährlich ist". Er unterstrich: „Wir werden uns nicht zu unterhalten brauchen, was für Gefahren das sein können; das kann sich jeder leicht ausrechnen." Am Abend des 9. November und im Verlaufe des 10. November bestand durchaus die reale Gefahr einer militärischen Eskalation, in die auch die Großmächte hätten hineingezogen werden können.
mdw: Stimmt es, dass die DDR keine Gewalt angewendet hat, weil es dazu einen Befehl Gorbatschows gegeben habe?
Krenz: Nein! Ein solcher Befehl ist auch nirgendwo dokumentiert. Er hätte ja für die DDR auch nur Bedeutung gehabt, wenn die Führung ihn gekannt hätte. Auch die sowjetische Generalität in der DDR hat ihn nie erhalten. UdSSR-Botschafter Kotschemassow hingegen hat zu Protokoll gegeben: „In der dramatischen Phase haben unsere Generäle im Oktober und November 1989 einen militärischen Einsatz erwogen und angeboten." Wenn die DDR hätte von sich aus Gewalt anwenden wollen, wäre sie dazu mit eigenen Kräften in der Lage gewesen. Ihre Armee und Sicherheitsorgane waren stark genug. Eine Entscheidung zur Gewaltanwendung wurde zu keinem Zeitpunkt ins Auge gefasst. Das hatte nichts mit Gorbatschow zu tun, sondern mit dem Anliegen der DDR, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Die Militärdoktrin der DDR sah zwar Widerstand gegen eventuelle Angriffe von außen vor, niemals aber Gewalt gegen das eigene Volk. Die Verfassung der DDR kannte – im Unterschied zur Notstandsgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland – keinen Ausnahmezustand.
mdw: Sind Sie stolz, dass 25 Jahre später zwei Ostdeutsche an der Spitze des einheitlichen Staates stehen?
Krenz: Das liegt doch nicht an ihren DDR-Biografien. Dass zwei Ostdeutsche Spitzenämter haben, verdeckt eher die tatsächliche Machtverteilung: Obwohl Ostdeutschland ca. 20 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik stellt, sind nur ca. 5 Prozent der Ostdeutschen in Führungspositionen von Politik, Justiz, Armee, Medien, Kultur und Vorständen von Unternehmen. Die Begründung für diesen einheitswidrigen Zustand hat der heutige Bundespräsident geliefert. 2009 sagte er: „Wir konnten nicht zulassen, dass die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben." Diese absurde Aussage verdient keinen Kommentar.
mdw: Viele Probleme, die sich aus der Wiedervereinigung ergaben, sind bis heute geblieben. Der unterschiedliche Umgang mit früheren DDR-Bürgern und ihren Biografien wird wahrscheinlich auch noch zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit 2015 gelebte Praxis sein. Was können Sie, Herr Krenz, was wollen Sie als einzigartiger Zeitzeuge dem deutschen Volk und insbesondere Ihren Landsleuten aus der früheren DDR im 25. Jahr des Mauerfalls auf den Weg geben?
Krenz: Ich brauche mir da nichts extra auszudenken. Der Bundespräsident hat kürzlich gesagt: Nach dem Ende der DDR seien die ehemaligen SED-Mitglieder vergleichsweise milde behandelt worden. Wörtlich: „Eine Entkommunizierung… gab es nicht, anders als die Entnazifizierung nach dem Krieg." Eine abstruse Konstruktion! Untersuchungen belegen zudem, dass in Westdeutschland nach 1945 lediglich 13 Prozent der Eliten des Nazireiches ausgewechselt wurden. 1990 ersetzte die Bundesrepublik aber 85 Prozent der DDR-Eliten. Über 100 000 von ihnen wurden juristisch verfolgt und sehr viele ins soziale Abseits geschickt.
Aktuell ist daher nach wie vor, was die Bundesregierung unter Konrad Adenauer vor über 50 Jahren für den Fall der deutschen Einheit meinte. Sie verabschiedete am 2. September 1956 ein „Memorandum zur Frage der Wiedervereinigung". Darin heißt es: „Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass freie Wahlen in ganz Deutschland, wie sie auch immer ausfallen mögen, nur den Sinn haben dürfen, das deutsche Volk zu einen und nicht zu entzweien. Die Errichtung eines neuen Regierungssystems darf daher in keinem Teile Deutschlands zu einer politischen Verfolgung der Anhänger des alten Systems führen. Aus diesem Grunde sollte nach Auffassung der Bundesregierung dafür Sorge getragen werden, dass nach der Wiedervereinigung niemand wegen seiner politischen Gesinnung oder nur weil er in Behörden oder politischen Organisationen eines Teils Deutschlands tätig gewesen ist, verfolgt wird."
Konrad Adenauer war klug genug, zu wissen, dass die „Anhänger" zweier verfeindeter Systeme nicht ohne zusätzlichen Schaden übereinander richten dürfen, weil sie in ihrer und wegen ihrer langjährigen Feindschaft befangen sind. Den Herrschenden in der Bundesrepublik fehlt diese fundamentale Einsicht bis heute.
Mit Egon Krenz sprach "mdw"-Chefredakteur André Wannewitz