"Der Kniefall Willy Brandts stand am Anfang einer neuen deutschen Außenpolitik"
mdw: Herr Bundesaußenminister, wie kaum ein anderes ist Ihr Leben äußerst eng mit dem Begriff der Freiheit verbunden. Geboren im Osten Deutschlands, geprägt von Erfahrungen und Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, nach Reifeprüfung und Studium der Rechtswissenschaften hineingewachsen in die Anfangsjahre der DDR, verließen Sie 1952 den zweiten deutschen Staat und machten politische Karriere in der alten Bundesrepublik Deutschland. Gingen Sie damals aus persönlichen Gründen in den Westen? Oder wollten Sie sich politisch nicht am Aufbau des Sozialismus in der DDR beteiligen, der ja 1952 von der SED beschlossen wurde?
Genscher: Zunächst hatten wir die Hoffnung, dass Deutschland bald vereint und freiheitlich und demokratisch sein würde. Dann zeigte sich, dass diese Hoffnung so bald nicht in Erfüllung geht. So stand für mich fest, dass ich früher oder später, aber in jedem Fall, die DDR verlassen würde. Da ich zu dieser Zeit mit einer schweren Lungentuberkulose zu kämpfen hatte, zögerte ich den Weggang hinaus, hatte dann aber Anlass schnell zu gehen, weil es Hinweise dafür gab, dass man Kollegen und Freunde über mich auszuforschen begann. Am Aufbau des Sozialismus als Gegenmodell zu einer freiheitlichen Ordnung wollte ich natürlich nicht mitwirken.
mdw: Noch im Jahr Ihrer Übersiedelung in den Westen wurden Sie Mitglied der Freien Demokratischen Partei. Sie sind also heutzutage mehr als 62 Jahre ein Liberaler und schon langjähriger Ehrenvorsitzender der Partei. Wie sehr hat Sie die FDP in Ihrem Leben geprägt? Und wie sehr haben Sie die FDP geprägt?
Genscher: In Halle gehörte ich der Liberaldemokratischen Partei seit dem 30. Januar 1946 an. Die Mitgliedschaft in der FDP war für mich die Fortsetzung der Mitgliedschaft in der LDP. Das war für mich von Anfang an meine politische Heimat. Ein Redner der LDP hatte mich gewonnen, als er ausrief: Der Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu jeder Form der Unfreiheit. Natürlich prägt man, wenn man eine führende Stellung in einer Partei hat oder gar ihr Vorsitzender über längere Zeit ist, auch diese Partei. Inwieweit das so ist, kann man selbst am wenigsten beurteilen.
mdw: Ist die gegenwärtige Verfassung, in der sich Ihre Partei befindet, eher von vorübergehender Natur? Oder kann die heutige Generation Ihrer Partei einfach nicht mehr den Gleichklang von Freiheit und Liberalismus offensiv vermitteln? Als die Mauer fiel, war der heutige FDP-Vorsitzende Lindner schließlich erst 10 Jahre alt…
Genscher: Lindner kann das. Deshalb unterstütze ich ihn. Er ist für den gegenwärtigen Zustand der Partei gewiss nicht verantwortlich und auch nicht seine Generation.
mdw: Sie, Herr Genscher, haben in der Bundesregierung unter den Kanzlern Brandt, Schmidt und Kohl gedient. Sie gehörten zweifellos zu den Machern der Deutschen Einheit. Beschreiben Sie uns als westdeutscher Zeitzeuge doch mal, wie Sie persönlich den Spannungsbogen zwischen dem Kniefall Brandts in Warschau und Ihrer eigenen Rede auf dem Botschaftsbalkon in Prag bewerten! Zwischen beiden Ereignissen liegen mehr als anderthalb Jahrzehnte.
Genscher: Ich hatte die Ehre, mit drei bedeutenden Bundeskanzlern zusammenarbeiten zu dürfen. Unter einem von ihnen habe ich nicht gearbeitet. Das entspricht nicht der Stellung des Bundesministers nach unserer Verfassung, denn er leitet sein Ressort in eigener Verantwortung.
Der Kniefall von Willy Brandt hat historische Bedeutung. Er stand am Anfang ein neuen Kapitels deutschen Selbstverständnisses und deutscher Politik, insbesondere auch der Außenpolitik. Damals begann eine neue Politik, die in der Einheit mündete. Die Ereignisse in Prag signalisierten eine wichtige Stufe dieser Politik.
Mit Hans-Dietrich Genscher sprach "mdw"-Chefredakteur André Wannewitz